KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche - Sonntagsbriefe

Sonntagsbrief zum Palmsonntag, 13.. April 2025

Geprägt durch den Tod oder durch das Leben?

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Fern meiner Befreiung sind die Worte meines Stöhnens.
Mein Gott, rufe ich bei Tag – du antwortest nicht,
bei Nacht – es gibt keine Ruhe für mich.
 
Alle, die mich sehen, verhöhnen mich,
verziehen die Lippen, schütteln den Kopf.
Wälze es auf die Lebendige!
Sie lässt entrinnen, rettet, an wem sie Gefallen hat.
Ja, du hast mich aus dem Mutterleib gezogen,
mir Vertrauen eingeflößt an der Brust meiner Mutter.
Auf dich bin ich geworfen vom Mutterleib an,
vom Schoß meiner Mutter an bist du mein Gott.
Sei nicht fern von mir, denn Bedrängnis ist nah –
nirgendwo Hilfe.
 
Wie Wasser bin ich hingegossen,
alle meine Knochen fallen auseinander.
Mein Herz ist wie Wachs geworden,
geschmolzen in meinem Inneren.
Ausgetrocknet wie eine Tonscherbe ist meine Kraft,
meine Zunge klebt an meinem Gaumen.
In den Staub des Todes legst du mich.
Hunde umkreisen mich, eine Meute von Bösen umgibt mich,
binden meine Hände und meine Füße.
Zählen kann ich alle meine Knochen.
Sie schauen mir zu, begaffen mich.
Sie teilen meine Kleider unter sich,
über mein Gewand werfen sie das Los.
Du aber, Lebendige, sei nicht fern!
Meine Starke, komm zu meiner Hilfe, schnell!
 
Ich will erzählen von deinem Namen vor meinen Geschwistern.
Mitten in der Gemeinde will ich dich loben.
Die ihr der Lebendigen ergeben seid, lobt sie,
alle Nachkommen Jakobs, gebt ihr Gewicht.
Fürchtet sie, alle Nachkommen Israels.
Sie erachtet nicht gering, verschmäht nicht
das Leiden der Besitzlosen.
Sie verbirgt ihr Antlitz nicht vor denen,
die nach ihrer Hilfe schreien – sie hört.
Von dir handelt mein Lob in der großen Gemeinde,
meine Versprechungen will ich erfüllen vor denen, die ihr ergeben sind.
Essen werden die Armen, satt werden.
Die nach ihr fragen, werden die Lebendige loben.
Euer Herz wird ewig leben.
 
Die Nachkommen werden ihr dienen.
Erzählt wird von ihr, die über uns herrscht, den Generationen.
Sie werden kommen,
ihre Gerechtigkeit kundtun dem Volk, das erst geboren wird:

Ja, sie hat es getan.

Psalm 22, 2-3, 8-12, 15-20, 23-27, 31-32; Bibel in gerechter Sprache 


Geprägt durch den Tod oder durch das Leben?

In diesem Sonntagsbrief möchte ich den Blick auf kulturelle Begleiterscheinungen von Religion und Theologie lenken, wie lange sie schon unsere Kirche(n) (auch im architektonischen Sinn) und wie sie uns prägen. Der Text ist etwas ausführlicher geworden, Sie können aber auch die Abkürzung nehmen und den Teil „Die prägende Kraft des Mittelalters“ auslassen und bei „Hinterlassene Spuren“ weiterlesen.

 

Kaum ein Passionslied ist so bekannt wie „O Haupt voll Blut und Wunden“ auf der Grundlage des mittelalterlichen Hymnus„Salve caput cruentatum“  des Zisterziensermönches Arnulf von Löwen von Paul Gerhard zur Melodie von Hans Leo Hassler. Besonders bekannt geworden ist es durch die Matthäuspassion des Johann Sebastian Bach. Immer noch wird es, sowohl in katholischen wie auch evangelischen Kirchen gesungen, die Passionen von Bach, Schütz, Telemann erfahren vielfache Aufführungen, unsere Kirchen sind voll mit Kunstwerken, die das Leiden und Sterben Jesu darstellen. Es gibt viele Menschen, die sich zwar ästhetisch davon anziehen lassen, die sich aber inhaltlich damit nicht auseinandersetzen, für sie bleibt der Inhalt dann so stehen, ist Objekt. Viele unserer Kirchenlieder, wie das am Anfang zitierte, spiegeln eine Leidens- und Opferfrömmigkeit, die den meisten von uns wahrscheinlich fremd geworden ist, die aber immer noch eine ungeheure Präsenz hat. Auch wenn wir sie eigentlich nicht singen wollen, sie sind da und sie werden gesungen. Und wir können uns ihrer Eindrücklichkeit nicht entziehen.

 

Die prägende Kraft des Mittelalters

 

Bis ins 12. Jahrhundert hinein zeigten die Kreuzesdarstellungen einen in ein langes Gewand gehüllten, lebenden Christus, mit einer Königskrone gekrönt als Sieger und Todesüberwinder. Seit dem 10. Jahrhundert kommen Darstellungen auf, die den Gekreuzigten entkleidet, mit Dornenkrone, mit deutlichen Merkmalen des Leidens gekennzeichnet, zeigen. Da wird ein Mentalitätswechsel sichtbar: nicht mehr mehr die Herrlichkeit Gottes, in die Jesus als der Christus hineintranszendiert wird zum wesentlichen Darstellungsfocus sondern das Leiden selbst. 

 

In Anlehnung an die von den frühen Jerusalem-Pilgern überlieferten Stationen der Via Dolorosa, die in einer Art Liturgie abgeschritten wurde, wurden auch im christlichen Europa seit dem Mittelalter solche Wege angelegt, deren Ziel dann z.B. eine Kapelle oder eine Kalvarienberggruppe waren. 

 

Besonders unterstützt wurde diese Form der Frömmigkeit durch Franziskus von Assisi, an dessen Füßen und Händen Wunden wie die Wundmale Jesu aufbrachen und Bernard von Clairveaux, der mit seinen Predigten auch die Begeisterung für die Kreuzzüge ins heilige Land befördert hatte. Von ihm ist die Aussage überliefert, dass die Erinnerung an den Tod Jesu mehr zur Frömmigkeit anrege, als die an das Leben Jesu. Diese Wahrnehmung dürfte erheblich dazu beigetragen haben, dass in der kirchlichen Tradition, in der katholischen wie später auch in der protestantischen, lange Zeit nicht das Leben und die Botschaft Jesu im Mittelpunkt der Verkündigung standen sondern der Tod am Kreuz, der als Opfertod verstanden wurde – und die Auferstehung. Damit wurde die Erlösungsbotschaft immer mehr mit dem „Opfer“ Jesu für „unsere“ Sünden als mit seinen sehr konkreten Verhaltensregeln für ein gutes, Gott gefälliges, gelingendes Zusammenleben in Verbindung gebracht.

 

Neben Altarbildern und plastischen Kreuzigungsgruppen entstanden zahlreiche Darstellungen von Situationen auf dem Leidensweg Jesu zwischen der Gefangennahme im Garten Getsemane und der Kreuzigung selbst, sowohl als einzelne Andachtsbildnisse, wie z.B. des Geschlagenen umkleidet mit einem Umhang und mit einem Schilfkolben als Spottszepter an die Geißelsäule gekettet oder Jesus „auf der Rast“, wo er gefesselt, auf einem Stein sitzend, schon entkleidet, der Kreuzigung harrt. Seit der Barockzeit hielten die Kreuzwege mit 14 Stationen Einzug in die Kirchen.

 

Das Hineinversetzen in das Leiden Jesu, also die intensive Anteilnahme sollte die Gläubigen davon abhalten, diesem Opferlamm Jesus noch mehr Sünden aufzuladen. Und was als Sünde galt, das wurde mehr und mehr durch die Kirche selbst bestimmt; ebenso auch die mögliche Befreiung von der Buße nach dem Tod im Fegefeuer bzw. die Verkürzung der Aufenthaltsdauer dort, nämlich durch das Erlangen von sogenannten Ablässen. Diese konnten durch die Teilnahme an Wallfahrten, durch Fasten, Almosen oder durch ausgiebige Gebetsübungen – z.B. Versenkung in das Leiden Jesu Christi – gewonnen werden. 

 

Gleichzeitig war die Orientierung am Leiden des Gottessohnes auch starker Trost und Motivation gerade in Leidenszeiten wie Kriegen, Naturkatastrophen oder wenn Seuchen ganze Landstriche entvölkerten. Gott weiß um das Leid der Menschen, sein Sohn selbst hat gelitten. Das war – und ist auch heute noch ein Trost.

 

Ganz allgemein kann man sagen: Das Bildprogramm in Kirchen ist bis in die Reformationszeit den im Credo enthaltenen Lebensstationen gewidmet: Verkündigung und Geburt, der Leidensweg, die Kreuzigung und die Auferstehung. Hinzu kamen noch das Jüngste Gericht, Szenen aus dem Fegefeuer und der Hölle, das Leben Mariens und die Darstellung von Heiligen. Das Leben Jesu und seine Botschaft erfuhren wenig Würdigung. Erst mit der Reformation änderte sich das Bildprogramm, allerdings zunächst auch nur in protestantischen Kirchen. Die ablasslastigen Passionswege haben im reformatorischen Gedankengut keinen Platz mehr, oft werden die vormals katholischen Kirchen von der traditionellen Ausstattung „gesäubert“ um neuer, den reformatorischen Idealen entsprechender Bildkunst Platz zu machen – oder unersetzt zu bleiben. Die fünf „Soli“ Luthers veränderten auch die Glaubenskultur der einfachen Leute grundlegend.

 

  • Sola Scriptura – Sola Christus – Sola Fide – Sola Gratia – Sola Deo Gloria.

  • Allein die Schrift – allein Christus – allein der Glaube – allein Gnade – allein zum Ruhm Gottes. 

 

Luther selbst lehnte die oft ausufernde Passionsfrömmigkeit, das übertriebene Versenken in das Leiden Christi rundweg ab. An die Stelle der Versenkung in das Leiden Jesu tritt bei Luther die Fokussierung auf die Erlösung der Sünder durch den Tod Jesu am Kreuz und die Rechtfertigungslehre, die die bedingungslose Gnade Gottes in den Vordergrund stellt, die auch keine Vermittlung zwischen Gott und Mensch durch die Kirche mehr duldet. Die Erlösung kann nicht durch „Werke“ - Almosen oder Gebete - „erwirkt“ werden sondern ist Gnadengabe Gottes, die den Glaubenden geschenkt wird. Auch die Heiligenverehrung ist damit obsolet. Die Passion erhält im reformatorischen oder evangelischen Leben ebenso einen gewichtigen Platz – in Literatur und Musik. Und so bleibt auch die schon bei Paulus als erstem christlichen Schriftsteller grundgelegte Opfertheologie erhalten, wird sogar noch verstärkt. In der Bildkunst kommen Szenen aus dem Leben Jesu hinzu, was die Passion angeht, reduziert sich das Programm auf Darstellungen des Kreuzestodes. 

 

Mit Reformation und Renaissance war die Entwicklung der religiösen Bildthemen im wesentlichen abgeschlossen. Die Barockzeit brachte im katholischen Bereich noch die durch Architektur begünstigte Darstellung himmlischer Szenen auf den weit gespannten Decken mit sich, doch selbst die hatten ihre Vorbilder in der Kunst des Michelangelo in der sixtinischen Kapelle in Rom. Die meisten der Themen waren zwar nicht neu, konnten aber in einer ganz anderen Intensität und in perspektivischer Raffinesse ausgeführt werden, die uns noch heute beeindrucken.  

 

Hinterlassene Spuren

 

Und genau das ist es: wir sind beeindruckt. Die Kunst, die Bilder, die Sprache des Mittelalters und der frühen Neuzeit, sie haben in uns Spuren hinterlassen, sie haben uns geprägt. Denn auch die moderne Kunst und Kirchendichtung haben wenig von moderner Theologie übernommen, die Opfertheologie hält sich in den Kirchen hartnäckig und wirkt, und immer noch scheint das Leben Jesu weniger wichtig als sein Tod.

 

Bei jemandem, der regelmäßig „in die Kirche“ geht, vor allem wenn das schon in der Kindheit geschieht, hinterlässt das Spuren. Gepaart mit Liturgie und Kirchenmusik entsteht ein solch dichtes Geflecht von Eindrücken, die die eigene Einstellung zu Gott und Kirche beeinflussen. Wie mit diesem Einfluss leben? Oder diesem Einfluss entkommen? Geht das überhaupt?

 

Einige meinen dem Einfluss zu entkommen, indem sie gehen. Gott und Sohn? So ein Quatsch. Auferstehung? Ein Märchen. Himmel? Gibt es nicht. Vielleicht schaffen sie es ja, aber ehrlicherweise müssten sie sagen, der Einfluss verblasst, aber die eingeprägten Spuren bleiben, und sie bleiben unbearbeitet. 

 

Einige sind sich des Einflusses nicht bewusst. Sie akzeptieren im wesentlichen, was an Prägung da ist, was ihnen immer und immer wieder eingeprägt wurde und es ist ihnen lieb und teuer.

 

Und dann gibt es einige, die wollen nicht mit dieser Prägung wie sie ist leben, aber nicht das aufgeben, was ihnen wertvoll erscheint, sie wollen an dieser Prägung arbeiten. -

 

Auch ich habe ein erhebliches Maß an Prägung erhalten. Aber anscheinend war entweder das Material zu widerspenstig oder die Dosis zu gering. Jedenfalls kann ich mich noch sehr gut erinnern, dass ich als verhältnismäßig junge Frau nach einem Passionsgottesdienst, in dem wieder einmal Jesus für meine Sünden gestorben ist und mich mit seinem Leiden erlöst hat meine Reaktion war: Nein. Hat er nicht. Jesus hat für mich gelebt, er hat mir mit seinem Leben den Weg der Erlösung gezeigt. 

 

Um so ernster nehme ich die Passion. Da hat ein Mensch, der Gott so nah war, dass er ihn Vater nannte ud dass er als Sohn Gottes erlebt wurde, die Botschaft Gottes so konsequent verkündet, dass er in Kauf nahm dafür zu sterben. Er ist nicht weggelaufen. Er hat sich nicht verdrückt. Er hat sich ausgesetzt, ist sozusagen selbst aussätzig geworden, wurde von denen, denen er zu unbequem, zu gefährlich wurde, der Ermordung durch einen gedungenen Machthaber ausgeliefert. Wie könnte ich mich nicht zutiefst davon berühren lassen, dass da einer, auch wenn es vor 2000 Jahren war, so schonungslos gelebt hat? Von diesem Leben möchte ich mich prägen lassen.

 

Seit meinem damaligen Widerspruch – und das sind nun gut 40 Jahre, lebe ich im beständigen Konflikt mit der Liturgie der Eucharistiefeier (allein der Begriff „Hostie“ kommt von Hostia, Opfergabe) und natürlich auch den immer wieder reproduzierten Botschaften z.B. durch die Kirchenmusik. (Und in den evangelischen Gottesdiensten geht es mir genauso.) Ich weiß, und das hilft mir ungemein, dass ich mit dieser Einstellung und mit den daraus resultierenden anhaltenden Widerständen nicht allein bin und dass Theologen und Theologinnen, sowohl reformatorischer wie röm.-katholischer Herkunft meine Einstellung mittragen. Und trotzdem ist es immer wieder eine Herausforderung, gegen die gehörten Worte anzuglauben, eine eigene authentische Version dagegen zu setzen, dieses konsequente Leben für die und aus der Liebe Gottes bewusst zu machen. 

 

In diesen Tagen, Palmsonntag, Gründonnerstag, Karsamstag, sind wir wieder besonders herausgefordert. Die Lesungen, Predigten und nicht zuletzt die Kirchenmusik, bzw. die dazugehörigen Texte, die oft das was an konstruktiver Auseinandersetzung mit Tod, Leid, Opfer, Hingabe in den Predigten geleistet wurde, konterkariert, stellen eine ganz besondere Herausforderung dar. Ich nehme diese Herausforderung gerne an, sie lässt mich erleben, dass mein Glaube etwas wachsendes, lebendiges ist. Nehmen Sie die Herausforderung auch an?

 

Ich wünschen Ihnen eine mit Herausforderungen gesegnete Karwoche

Sigrid Grabmeier 

 

Online-Andacht zur Karwoche

Dienstag 15. April 2025, 19:00 Uhr, Zugang hier