Lazarus als Mysterium Christi und Appell an die Reichen
Wegen fehlerhafter Wiedergabe bei der Sendung vom Freitag Abend wird dieser Sonntagsbrief ein zweites Mal verschickt.
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Es war einmal ein reicher Mann. Er war mit Purpur und Leinen bekleidet und erfreute sich jeden Tag in glänzender Weise. Es war aber auch ein Armer mit Namen Lazarus da, er lag vor seiner Tür, bedeckt mit Geschwüren, und er hätte so gerne von dem gegessen, was vom Tisch des Reichen fiel. Stattdessen kamen die Hunde, und sie beleckten seine Geschwüre. Als aber der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben. Und als er im Totenreich, geplagt von Qualen, seine Augen erhob, sah er Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. Da rief er laut: „Vater Abraham, hab Mitleid mit mir und schick Lazarus herüber, dass er seine Fingerspitze ins Wasser tauche und meine Zunge benetze, denn ich leide in diesem Feuer!“ Abraham aber gab zur Antwort: „Kind, erinnere dich, dass du dein Gutes in deinem Leben schon empfangen hast, und Lazarus das Schlechte. Jetzt aber wird er getröstet, du aber leidest. Und bei alledem besteht zwischen uns und euch eine tiefe Kluft, damit die, welche von hier zu euch hinübergehen wollen, es nicht können, noch die, welche dort sind, zu uns herübergelangen können.“ Da sagte er: „Ich bitte dich also, Vater, schick ihn in mein Elternhaus, denn ich habe fünf Geschwister, damit er ihnen Beweise bringe, damit sie nicht auch an diesen qualvollen Ort kommen.“ Abraham sagte: „Sie haben Mose und die prophetischen Schriften! Darauf sollen sie hören.“ Er aber erwiderte: „Nein, Vater Abraham, vielmehr wenn einer von den Toten zu ihnen geht, dann werden sie umkehren!“ Abraham sagte zu ihm: „Wenn sie nicht auf Mose und die prophetischen Schriften hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten sich erhebt!“
Lk16,19-31 Bibel in gerechter Sprache
 
 
Lazarus als Mysterium Christi und Appell an die Reichen
Bibelsprache ist ein „Zaubergarten“. 
Als verlässliches Geschichtsbuch wäre sie gründlich missverstanden. Und schon gar nicht sind Bibel und Dogma deckungsgleich. Eine Deutung der Welt ist ohne Mythen und Parabeln, Fabeln und Paradoxa nicht möglich. Symbolsprache hat ihre eigene Gültigkeit. Klar ist ebenso: Die Bibel unterliegt historischen Bedingungen und Interessen. Texte wurden er- und überarbeitet, etwas eingefügt, neu gedeutet. Irrtümer und Disharmonien inbegriffen. Eine kanonische Exegese, die harmonisieren und die Vielstimmigkeit vereinheitlichen wollte, führt in die Irre. Geschichtlichkeit relativiert Wahrheit. Fragen und Zweifel bestehen. Allein die wissenschaftliche Kenntnis der Formen hilft, Fehldeutungen zu vermeiden. Festgeprägte Denkmuster lassen keine Nuancen, Zwischentöne, Abstufungen zu. Eindeutigkeit vor dem Mysterium wiegt in falscher Sicherheit, wirkt klar, ist aber fundamentalistisch.
 
 
 
Das Gleichnis knüpft an ein ägyptisches Märchen an. Es handelt von der Fahrt ins Totenreich und endet mit den Worten: „Wer auf Erden gut ist, zu dem ist man auch im Totenreich gut, wer aber auf Erden böse ist, zu dem ist man auch dort böse.“ Juden aus Alexandria brachten diese Erzählung nach Palästina. Im Talmud wurde sie in die Geschichte vom armen Schriftgelehrten und dem reichen Zöllner Bar Majan umgewandelt. Der Reiche wird glanzvoll beerdigt, der Arme ohne Notiz. Dem Reichgewordenen wird zugutegehalten: Er lud Honoratioren der Stadt ein, die ihm alle eine fadenscheinige Absage erteilten. Aus Ärger rief er die Armen und Bettler ins Haus und knallte den Festverächtern die Tür zu: Zu spät! Die Pointe dort besteht darin, dass es zu einer Umkehrung der Zuteilung von Zorn und Güte kommt. Das Schicksal von Zöllner und Pharisäer kehrt sich im Totenreich um. Bedenken wir, dass im antiken Judentum das Vergeltungsdenken vorherrschte.
Wie geht Jesus mit der Tradition um?
Er interpretiert sie neu, spielt mit der Vorlage, setzt eigene Akzente. Nimmt keine Frommen als Beispiel, keine „Pharisäer, die sehr am Geld hingen“ (Lk 16,14), sondern einen gelähmten, hautkranken Bettler, der vor dem Palast um Gaben ruft. Sein Name Lazarus bedeutet nicht umsonst „Gott hilft“. Beide finden sich nun tot in der Unterwelt. Der Reiche, der „nix“ mitnehmen konnte, gequält, im Feuer, böte ein Königreich für einen Tropfen Wasser. Vater Abraham! Hab Erbarmen, schick Lazarus, kühle meine trockene Zunge! Der im Leben Geschundene liegt an einem Ehrenplatz, „in Abrahams Schoß“. Sitzplatz und Rangfolge werden nach göttlicher Weisheit vertauscht. Lazarus ist aber nur eine Kontrastfigur; es geht um die Brüder, die nur Reichtum im Sinn haben, nicht den Schatz, den keine Mäuse je anknabbern.
Das Gleichnis hat zwei Gipfel. Der erste Gipfel ist die Umkehrung des Geschicks. Der zweite Gipfel ist die Abweisung der Bitten des Reichen, Abraham möge die fünf Brüder warnen, sich nicht ebenfalls die Hölle des Durstes einzuhandeln. Ahn-Vater Abraham: Du hattest reichlich, du musst leiden. Lazarus hatte nur Schlechtes, jetzt ist er getröstet. Außerdem: Uns trennt (wie im Leben) ein Abgrund, unüberwindlich. Der Reiche fleht: Dann schick wenigstens Lazarus zu den fünf Brüdern, er solle sie warnen vor der Wahl zur Qual! Abraham: „Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören.“ (Lk 16,29) Nein, sagt der Reiche, nur wenn einer von den Toten kommt, werden sie umkehren. Abraham: Nicht einmal dann… (Hier spielt offenbar die Erfahrung der Christen herein, dass ihr Auferstehungsglaube abgelehnt wird.) Man ermahnt die Reichen, „nicht überheblich zu werden und ihre Hoffnung nicht auf den unsicheren Reichtum zu setzen, sondern auf Gott, der uns alles reichlich gibt, was wir brauchen.“ (1 Tim 6,17) Freigebig und wohltätig sollen Reiche sein und mit anderen teilen. Ungerechte Verteilung aber quält bis heute. Dabei sollte doch Recht strömen wie Wasser…(Amos) Laut Armutsbericht 2024 leben in Deutschland 13 Millionen in Armut: Alleinerziehende, junge Erwachsene, davon 3,4 Millionen Rentner, bei 1,6 Mio. Millionären. Weltweit hungert jeder Elfte.
Die Armen sind das Mysterium Christi
Zum 5. Welttag der Armut (2021) erinnert Franziskus an jene Frau im Haus des aussätzigen Simon, die unvermittelt Jesus mit teurem Öl salbt. Diese Geste verwundert. Verschwendung! Schreit einer. Jesus, selbst ohne Dach über dem Kopf, akzeptiert die Geste. Arme habt ihr immer, solche Liebe nicht! „Jesus teilt mit ihnen das gleiche Schicksal.“ „Das gesamte Wirken Jesu bestätigt, dass Armut nicht die Folge schicksalhaften Unglücks ist.“ Wir erkennen Gott am Rand, in den Samariter-Situationen. Jesus dreht die Perspektive um: Die Armen sind der soziale Ort der Gotterkenntnis. „Die Armenjeglicher Situation und auf der ganzen Welt evangelisieren uns, weil sie es uns ermöglichen, auf immer neue Weise die wahren Züge des väterlichen Antlitzes zu entdecken.“ Mehr noch: Arme „repräsentieren seine Person und verweisen auf ihn.“ Unermüdlich warnt Franziskus vor fataler Gleichgültigkeit. Seine Kapitalismus-Kritik kommt nicht von ungefähr. „Die Wurzel aller Übel ist die Habsucht.“ (1 Tim 6,10) „Teilen lässt Geschwisterlichkeit wachsen. Das Almosen ist etwas Gelegentliches; Teilen ist dagegen dauerhaft.“ Teilen stärkt Solidarität und schafft Gerechtigkeit. Wir müssen unser Herz öffnen und einen Lebensstil pflegen, der mit dem Glauben übereinstimmt. Nicht Reichtum anhäufen, der „die Illusion einer zerbrechlichen Sicherheit vorgaukelt.“ Die wahren Reichtümer haben mit Liebe zu tun. (vgl. Mt 6,19f). „Ein individualistischer Lebensstil ist mitschuldig an der Entstehung von Armut. Armut „ist die Folge von Egoismus.“ „Es gibt viele Formen der Armut bei den ‚Reichen‘, die durch den Reichtum der ‚Armen‘ geheilt werden könnten, wenn sie nur einander begegnen und sich kennenlernen würden!“ Die meisten Reichen ahnen nicht einmal ihr aufgeblasenes Elend.
In seinem Buch „Survival of the Richest" (Berlin 2025) beschreibt der Medientheoretiker Douglas Rushkoff die Mentalität, das Mindset, der Tech-Oligarchen. Das Autistische und Sozialphobische in ihrem Wesen - eine Art Doktrin des genial begabten Übermenschen - blendet die Armen der Welt empathielos aus, stets fluchtbereit – bis auf den Mars. Rushkoff sieht die Demokratie gefährdet durch die Entfesselung der Technologie. Als der Intellektuelle eine fürstlich bezahlte Einladung in ein exklusives Wüstenresort erhält, nimmt er an, dass er dort über Zukunftstechnologien sprechen soll. Stattdessen sieht er sich fünf Superreichen gegenüber, die ihn zu Luxusbunkern und Marskolonien befragen. Während die Welt mit der Klimakatastrophe und sozialen Krisen ringt, zerbrechen sich diese Männer (!) den Kopf, wie sie mit Macht (Trump) und Technik (Musk) die Gesellschaft radikal umgestalten und im Fall eines Systemkollapses flüchten können. Eskapismus, obwohl es kein Entkommen vor dem Tod gibt. „Es ist, als wollten sie ein Auto bauen, das schnell genug fährt, um seinen eigenen Abgasen zu entkommen.“ (Ebd.S.22) Er erzählt den Verblüfften, für die Zukunft am besten wäre solidarisches Verhalten. Sie sollten besser in Menschen und Beziehungen investieren statt Wetten zu platzieren und Reichtum anzuhäufen. Ihnen aber liegt die Apokalypse näher als jeder Nächste. 
Da ist die Kirche schon näher bei den Menschen. Leo XIII. diagnostizierte 1891 schon: Eine geringe Zahl häuft Kapital an, die große Menge verarmt. Und wie kritisierte Papst Leo XIV. eine Amerika-First-Politik der Ausgrenzung? „Jesus fordert uns nicht auf, unsere Liebe zu anderen abzustufen.“ Ich gebe bewusst wieder Papst Franziskus das Wort. Häufig fehle Menschen das Notwendige, „aber es fehlt ihnen nicht alles, denn ihnen bleibt die Würde der Gotteskinder.“ „Wenn die Armen an den Rand gedrängt werden, als wären sie schuld an ihrer Situation, dann gerät das Konzept der Demokratie selbst in die Krise und jegliche Sozialpolitik ist zum Scheitern verurteilt. Mit großer Demut sollten wir bekennen, dass wir angesichts der Armen oft inkompetent sind. Man spricht von ihnen in abstrakter Weise, beschränkt sich auf Statistiken und meint, mit einigen Dokumentarfilmen die Menschen zu rühren.“ Armut sollte zu einer kreativen, ganzheitlichen Entwicklungsplanung anregen.
Großherzigkeit ist ein Trumpf im Miteinander, ein Triumpf der Gerechtigkeit. Geberhaltung entscheidet. „Gott liebt einen fröhlichen Geber“ (2 Kor 9,7). „Es geht nicht darum, unser Gewissen zu beruhigen, indem wir Almosen geben, sondern vielmehr darum, der Kultur der Gleichgültigkeit und Ungerechtigkeit gegenüber den Armen entgegenzutreten“ 
Franziskus zitiert Chrysostomus. „Der Barmherzige ist ein Hafen der Notleidenden; ein Hafen aber nimmt alle Schiffbrüchigen ohne Unterschied auf und rettet sie aus der Gefahr.“ Siehe Lampedusa! Der neue Papst Leo XIV. verwendet ähnliche Bilder für die Kirche: Leuchtturm und rettende Arche. „Wenn nun auch du einen Menschen am Boden siehst, der in den Schiffbruch der Armut geraten ist, so sitze nicht über ihn zu Gericht und fordere nicht Rechenschaft von ihm, sondern rette ihn aus seinem Unglück“ (De Lazaro, II, 5). Schiffbruch und Armut als Synonyme. Relativer Wohlstand fördert leider Unmut, Ansprüche, Abstiegsangst. Das sind keine Kriterien, auf die man Zukunft aufbauen kann. 
Don Primo Mazzolari, Priester, Schriftsteller, sagt: „Die Armen müssen umarmt, nicht gezählt werden.“ 
Zur Erinnerung:
„Ein armer teufel/ so sagen wir/ 
von reichen teufeln/ ist niemals die rede// 
ein armer teufel/ einst jesus von nazareth hieß/ 
ein armer teufel/ der nichts hinterließ/ 
als den aufstand der armen/ in ewigkeit amen“
(Kurt Marti, leichenreden, 1987)
Einen freigebigen Sonntag wünscht Günther M. Doliwa
Hinweis: Dieser Sonntagsbrief findet sich neben anderen im neuen Buch zum 30-jährigen Jubiläum von Wir sind Kirche. Günther M. Doliwa, Sonntagsbriefe (2018-2025) Zeitgenössische Auslegung des Evangeliums 2025 S.167f. Preis: 17 Euro. Bestellung: www.doliwa-online.de
 
Herzliche Einladung zu unseren Online-Veranstaltungen, Wir sind Kirche Andachten und Gespräche am Jakobsbrunnen, die wir wieder jeweils dienstags um 19:00 Uhr anbieten.
Dienstag, 30. September 2025 19:00
PD Dr. theol. habil. Stefan Silber, Lehrstuhlvertreter für Systematische Theologie an der Universität des Saarandes: 
Das Konzil von Nicäa aus herrschaftskritischer, postkonolialer Perspektive
 
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