Sonntagsbrief zum Palmsonntag, 14.. April 2019
13. April 2019 von Johannes Brinkmann
Ganz Ohr
GOTT, der Herr, gab mir die Zunge von Schülern,
damit ich verstehe, die Müden zu stärken durch ein aufmunterndes Wort.
Jeden Morgen weckt er mein Ohr,
damit ich höre, wie Schüler hören.
GOTT, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet.
Ich aber wehrte mich nicht
und wich nicht zurück.
Ich hielt meinen Rücken denen hin,
die mich schlugen,
und meine Wange denen,
die mir den Bart ausrissen.
Mein Gesicht verbarg ich nicht
vor Schmähungen und Speichel.
Und GOTT, der Herr, wird mir helfen;
darum werde ich nicht in Schande enden.
Deshalb mache ich mein Gesicht hart wie einen Kiesel;
ich weiß, dass ich nicht in Schande gerate.
Jes 50, 4-7 Einheitsübersetzung
Ganz Ohr
Ich bin Kulturschaffender in meiner Heimatstadt Essen. Ich habe hier sehr erfolgreiche Theaterstücke geschrieben und auf die Bühne gebracht. So z.B. 1996 die gefühlvolle Komödie „Ich, Michael, Hausfrau und Mutter!“ die Geschichte der schwulen Hausfrau und Mutter Michael, der in seiner „Ehe“ mit seinem Harald und seiner Familie bestehend aus Harald und dessen Sohn Stefan, alte Rollenmuster als Frau übernahm, sich zunehmend unwohl und ausgenutzt in ihnen fühlte und sich nun im Laufe der Geschichte als „neue Frau“ emanzipierte. Und das in einer Zeit, in der Homosexualität noch ein großes Tabu war.
Um die Jahrtausendwende traf ich eine Mitarbeiterin des Kulturbüros der Stadt an der U-Bahn-Haltestelle des Essener Opernhauses. Und da sagte ich zu ihr, dass ich als Kulturschaffender den Menschen nicht geben wolle, wonach sie verlangen, vielmehr wolle ich ihnen geben, was sie brauchen. Ich vergesse nie ihren Blick auf diese Aussage. Sie schaute mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. Ich hatte den Eindruck, dass sie sie für vermessen hielt. Schließlich lebten und leben wir ja in einer Zeit, in der die Nachfrage das Angebot bestimmt. Und was nicht nachgefragt wird, ist auch nichts wert!
Wenn z.B. ein Autobauer die besten Ingenieure um sich sammelte, und ihnen den Auftrag gebe, das heute best mögliche umweltgerechte Auto zu bauen, und es gelänge ihnen tatsächlich, so wäre dieses vollkommene Auto dennoch vollkommen wertlos, wenn es nicht in der Lage wäre, Nachfrage zu generieren.
Der Schüler im dritten Gottesknechtlied ist offensichtlich ähnlich meschugge wie der Autobauer oder ich. Sein Ohr ist weit geöffnet, doch richtet es sich nicht nach dem, was die Menschen wollen. Es richtet sich vielmehr nach dem, was der menschenfreundliche GOTT von ihm will. GOTT löst seine Zunge, „damit ich verstehe, die Müden zu stärken durch ein aufmunterndes Wort."
„Die Menschen denken eher in Geschichten als in Fakten, Zahlen oder Gleichungen, und je einfacher die Geschichte ist, desto besser. Jede Person, jede Gruppe und jede Nation hat ihre eigenen Erzählungen und Mythen.“ Yuval Noah Harari schreibt dies in seinem neuesten Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“. Genauso habe ich das damals auch gesehen und schrieb eine spannende Erzählung auf der Basis der zweiten Schöpfungsgeschichte, weil ich fand und finde, dass sie sich besonders gut eignet das Zusammenwachsen der Menschen zu einer großen Menschheitsfamilie zu fördern, ist doch dieser alte biblische Mythos religiöse Grundlage für Juden, Christen und Muslimen. Zugleich hat er viel Elend hervorgebracht, vor allem für Frauen, aber auch für Homosexuelle, weil er dem Patriarchat eine scheinbar von GOTT selbst eingeschärfte Macht gab.
Na ja, ich bin mit dieser spannenden geradezu kindgerechten poetisch biblischen Erzählung, die ich im Jahr 2000 aufschrieb, und der ich den Titel „Am Anfang war die Einheit! Erinnerung an den Klang des Ursprungs.“ gab, bisher nicht auf eine große Nachfrage gestoßen. Dennoch nenne ich sie mein wichtigstes Werk als Kulturschaffender.
Doch auch der Gottesknecht im Lied aus dem Buch des Propheten Jesaja ist mit seinem „aufmunternden Wort“ wohl eher nicht auf Begeisterung gestoßen. Warum sonst muss er sein Gesicht hart wie einen Kiesel machen, warum sonst wehrt er sich nicht und will nicht zurückweichen? Er, der ein offenes Ohr als Schüler GOTT gegenüber hat, fand kein offenes Ohr bei den Menschen, fand schroffe Ablehnung. Er hat wohl Erwartungen nicht erfüllt. Wer gestern noch in froher Erwartung an diesen Boten „Hosianna" rief, rief nun enttäuscht „ans Kreuz mit ihm!“
Doch der Geschmähte hat einen tiefen Trost in GOTT seinem Lehrer: „ich weiß, dass ich nicht in Schande gerate.“
Johannes Brinkmann / Essen
Bildnachweis:
Einohr 1995, Eschenstamm, an der Emkendorfer Allee vor dem Gut Emkendorf