Sonntagsbrief zu Pfingsten, 28.Mai
26. Mai 2023 von Magnus Lux
Pfingsten – ein frommes Märchen?
Als der 50. Tag, der Tag des Wochenfestes, gekommen war, waren sie alle beisammen. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Tosen wie von einem Wind, der heftig daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie sich aufhielten. Es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich zerteilten, und auf jede und jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Da wurden sie alle von heiliger Geistkraft erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden; wie die Geistkraft es ihnen eingab, redeten sie frei heraus. Unter den Jüdinnen und Juden, die in Jerusalem wohnten, gab es fromme Menschen aus jedem Volk unter dem Himmel. Als nun dieses Geräusch aufkam, lief die Bevölkerung zusammen und geriet in Verwirrung, denn sie alle hörten sie in der je eigenen Landessprache reden. Sie konnten es nicht fassen und wunderten sich: „Seht euch das an! Sind nicht alle, die da reden, aus Galiläa? Wieso hören wir sie dann in unserer je eigenen Landessprache, die wir von Kindheit an sprechen? Die aus Persien, Medien und Elam kommen, die in Mesopotamien wohnen, in Judäa und Kappadozien, in Pontus und in der Provinz Asien, 1in Phrygien und Pamphylien, in Ägypten und in den zyrenischen Gebieten Libyens, auch die aus Rom Zurückgekehrten, 1von Haus aus jüdisch oder konvertiert, die aus Kreta und Arabien kommen: Wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden.“
Apg 2, 1-11
Pfingsten – ein frommes Märchen?
Na, das fing ja schön an, was uns da wie ein frommes Märchen als „Beginn der Kirche“ aufgetischt wird. Immer noch geknickt verstecken sich die engsten Mitarbeitenden ihres als Verbrecher gehenkten Anführers Jesus im Haus. Da kommt vom Himmel her ein Tosen wie von einem Wind und Feuerzungen lassen sich auf ihnen nieder. Eine Geistkraft erfüllt sie und sie reden in anderen Sprachen, frei heraus. Die Leute kommen zusammen und wundern sich, denn alle können sie in ihren Sprachen verstehen. Sie verkünden die großen Taten Gottes, meinen die einen. Sie sind besoffen, meinen die anderen.
Ein frommes Märchen? Nun ja. Ich meine: Entweder wir nehmen die Bibel wörtlich – oder wir verstehen sie. Wir Menschen denken und reden in Bildern, wir be-greifen etwas, wir er-fassen es, wir ver-stehen unsere Welt, indem wir sie uns bildhaft aneignen. Fantastische Märchen sind nicht nur etwas für Kinder: sie sind Geschichten, die die Fantasie anregen; sie zeigen Schritte auf, wie sich Dinge entwickeln; sie bieten Möglichkeiten an, wie Konflikte gelöst werden können. Und Mär? Im Weihnachtslied von Martin Luther ist „Mär“ noch positiv besetzt: „Vom Himmel hoch, da komm' ich her, ich bring' euch gute neue Mär.“ Erst später wird aus Mär und Märchen eine unwirkliche, ja falsche Geschichte. Und fromm? Ursprünglich bedeutet „fromm“ tüchtig, tapfer, rechtschaffen, wie wir es heute noch altertümlich verwenden: zu Nutz und Frommen.
Pfingsten – ein frommes Märchen? Ja: eine Geschichte, die uns auch heute noch hilfreich ist.
Die Bilder der Apostelgeschichte sind uns durchaus geläufig: ein Mädchen ist der reinste Wirbelwind; ein junger Kerl ist ein stürmischer Liebhaber; da ist jemand Feuer und Flamme; wir sind be-geistert; die Sprache der Liebe ist international. Pfingsten: Die Verzagten wagen sich in die Öffentlichkeit und trumpfen gegen die Mächtigen ihrer Zeit auf. Sie lassen sich nicht mehr kleinmachen. Sie lassen sich nicht mehr einschüchtern. Sie lassen sich nicht mehr den Mund verbieten.
Pfingsten – ein frommes Märchen? Nun, wenn wir die Kirche heute anschauen, dann kommt uns Pfingsten heute wirklich wie ein frömmelndes Geschichtchen vor. Was ist aus dem Sturmwind, aus dem Feuereifer des ersten Pfingstfestes gemacht worden? Was ist aus der Einheit aller Getauften, die eine Geistkraft getrunken haben, gemacht worden? Was ist aus den geschenkten Fähigkeiten gemacht worden? – Ein jede Initiative lähmendes kirchliches Gesetzbuch ist zum Maßstab des Glaubens erklärt worden, für viele über dem Evangelium stehend, starre Regeln und ein Für-wahr-halte-Glauben ersetzen die befreiende, die frohe Botschaft und das Urvertrauen, dass Gott auf unserer Seite steht. Die eine Kirche ist aufgespalten worden in Kleriker und „Laien“ und die Kleriker beanspruchen, allein im Besitz der Geistkraft zu sein, insbesondere die Bischöfe und genaugenommen allein der Papst, dem alle kirchliche Macht und geistliche Unfehlbarkeit zugesprochen wird. Von gottgeschenkten Fähigkeiten ist nicht mehr die Rede, sondern von durch die Kirchenleitung zugeteilten, bestenfalls zugestandenen Aufgaben; 96 Prozent des Volkes Gottes haben kein Mitspracherecht, wenn es um die Zukunft des Glaubens und der Kirche geht, Frauen werden kirchliche Ämter grundsätzlich verweigert.
Pfingsten – ein frommes Märchen? Ja, wir brauchen ein neues Pfingsten! Wir brauchen eine neue Begeisterung. Wir brauchen Männer und Frauen und Diverse; wir brauchen Junge und Alte, Gelehrte und einfache Leute; wir brauchen Europa und Amerika, Asien und Ozeanien, Afrika und Australien. Wir fordern Gerechtigkeit, Liebe und Frieden für alle Menschen auf dieser unserer Erde, wir erwarten eine grundsätzliche Geschwisterlichkeit in Kirche, Gesellschaft und Staat entsprechend dem Wort: „Einer ist euer Meister, ihr alle seid Brüder und Schwestern.“ Lassen wir uns neu begeistern, dann können wir im Sturmwind die Herzen der Menschen erobern und die befreiende Botschaft wird sich wie ein Lauffeuer verbreiten. – Jetzt werden einige sagen: Das geht doch nicht! Aber ich sage: Machen wir es einfach! Geben wir der Geistkraft eine Chance!
Magnus Lux