Sonntagsbrief zum 5. Fastensonntag, 7. April 2019

5. April 2019 von Günther Doliwa

Jesus verkündet keine Moral: Er zeigt Menschenkenntnis und Feingefühl.

Sigrid Grabmeier, Isar-Ursprung, Scharnitz Karwendel

 

Jesus aber ging auf den Ölberg. Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel, und das ganze Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. Die Schriftgelehrten, Pharisäerinnen und Pharisäer brachten eine Frau, die beim Ehebruch ergriffen worden war, und stellten sie in die Mitte, und sie sagten ihm: "Lehrer, diese Frau ist ergriffen worden, wie sie gerade dabei war, Ehebruch zu begehen. In der Tora hat uns Mose geboten, solche Frauen zu steinigen. Was meinst du nun dazu?" Dies sagten sie aber, um ihn auf die Probe zu stellen, damit sie etwas hätten, um ihn anzuklagen. Jesus aber beugte sich nieder und schrieb mit dem Finger in den Sand. Als sie dabei blieben, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sagte ihnen: "Welche unter euch ohne Unrecht sind, mögen als Erste einen Stein auf sie werfen." Und er beugte sich wieder hinunter und schrieb in den Sand. Als sie dies hörten, gingen sie alle nacheinander weg, angefangen bei den Ältesten, und ließen ihn allein mit der Frau, die in der Mitte war. Jesus richtete sich auf und sagte ihr: "Frau, wo sind sie? Hat dich niemand gerichtet?" Sie sagte: "Niemand, Rabbi." Jesus sagte ihr: "Auch ich richte dich nicht; geh und tue von jetzt an kein Unrecht mehr." Joh 8, 1-11 Bibel in gerechter Sprache

 

Jesus verkündet keine Moral: Er zeigt Menschenkenntnis und Feingefühl.

Die Geschichte mit der Ehebrecherin ist eine Paradegeschichte, um Jesus in seiner Radikalität zu begreifen. Eine Kern-Parabel. Ein Lichtschlitz zum Unbegreiflichen. Eine typisch jesuanische Provokations-Geschichte veranschaulicht seine radikale Gewissens-Selbst-Ermächtigung. Und alle, die so gern das Wort vom Sünder im Munde führen und damit das Gegenteil von Jesus im Schilde führen, lässt diese Geschichte auflaufen, abprallen. Moralisten, geht nach Hause! Jesus will den Menschen samt aller Gewaltstruktur heilen. Es geht um das Schicksal einer beschämten Frau. Als die Leute eine „Ehebrecherin“ zu ihm bringen, und ihn prüfen wollen, ob er auch die Autorität des Moses anerkennt, der angeblich auf Ehebruch die Todesstrafe verordnete, schreibt er zunächst einfach ungerührt mit dem Finger in den Sand, als ginge ihn alles Finger-Zeigen nichts an. Zur angeblichen Unauflöslichkeit der Ehe kein Wort! Dieser Text steht bis heute in Spannung zurkirchlichen Sittenlehre.Jesus verkündet keine Moral: Er zeigt Menschenkenntnis und Feingefühl! Weil er ihre Mordsgier durchschaut, dreht er den Spieß um und prüft sie: 

„Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ (Johannesevangelium 8,7) Ein wunderbar entwaffnendes Zauberwort, das die Gewalt im Innern der Gewalttäter erstarren lässt. Jesus, der von Vorurteilen und Verurteilen nichts hält, da wir alle fehlbare Menschen sind, schafft die Todesstrafe ab, indem er die Lust am Strafen austreibt und damit der Vergebung die Bahn öffnet. Woher Religion oder Staat sich das Recht herausnehmen wollen zu töten – ein Recht das beide dem einzelnen ja dezidiert absprechen - bleibt ein Fundamental-Widerspruch in sich. Unglaublich treffsicher entlarvt und entwaffnet Jesus die Heuchler. Mit  Steinen in der Hand – so kommen die Leute daher, um ihn hereinzulegen, und was macht er, während er die Sünden in den Sand abschreibt? Er macht einen Prüfstein daraus. EineHerzensprobe dafür, wie weit unsere Menschlichkeit reicht. Aufgrund solcherHerzensreinheit strahlt dieser Rabbi, der kein Rabbi sein wollte,  durch die Zeiten. Vergleiche ihn ruhig mit den Größten: Er hält jeden Vergleich aus! Dorothee Sölle hatte Recht. Deswegen inspiriert er uns zu einer neuen Spiritualität für eine erneuerte Kultur des Miteinanders: Indem er vom Hassen zum Lieben befreit. 

Das erschütternde Buch „Die gesteinigte Frau“ fiel mir einst zufällig in die Hand. Um die tragische, unglaubliche Geschichte der Soraya Manoutchehri zu recherchieren, kehrte der iranische Journalist Freidoune Sahebjam, 1979 vom Chomeini-Regime in Abwesenheit zum Tode verurteilt, 1987 heimlich in sein entstelltes Vaterland zurück. Es geht um Soraya, 1951 geboren in einem iranischen Bergdorf. Sie wird mit zehn Jahren zum Groß-Grundbesitzer in die Lehre gegeben, von dem missbraucht (*), wenn dessen Frau aus dem Haus ist, mit dreizehn verheiratet mit einem Grobian, mit vierundzwanzig ist sie schon neunmal Mutter - eine Frau, die verstummt, vorzeitig gealtert und wehrlos den Demütigungen des Gatten ausgesetzt ist, diese Frau wird das Opfer eines grausamen islamischen Gesetzes: sie wird öffentlich vom Dorf als scheinbare Ehebrecherin gesteinigt. Ihr eigener Mann hatte erfolgreich ein Komplott geschmiedet, um sie loszuwerden und um eine andere Frau aus der Stadt zu heiraten. Verstiegene Männer, denen der Ayatollah (wir Christen würden sagen: der Kleriker!) zu Kopf gestiegen ist, der ihren Machtgelüsten freie Hand zur Gewalt gewährt, solche verhängen ein verhetztes Todesurteil. Vater, Ehemann und Söhne werfen „ehrenhalber“ die ersten Steine auf die bis zu den Schultern eingegrabene Wehrlose von einer Kreislinie aus. In kollektiver Hysterie vollzieht das Dorf das barbarische Ritual. Ein Ziegelstein erledigt die Röchelnde. Entsetzte Gaukler schauen zu. Nicht einmal ein Grab gönnen ihr die Gnadenlosen. Ihre verstümmelte Leiche wird wilden Hunden zum Fraße vorgeworfen. Einzig ihre treue Tante hält zu ihr, auch sie ohnmächtig gemacht. Ihrer Liebe und dem Mut des Journalisten verdanken wir dieses Dokument der Barbarei. 

Die gesteinigte Frauist ein schreckliches  Symbol der Herzens-Verhärtung der Peiniger. Eine Steinigung istkein Heidenspaß wie in der Film-Satire „Leben des Brian“. In der islamischen Republik, die ihr 30-jähriges Jubiläum „feiert“, sind mehr als tausend Frauen gesteinigt worden, zwei pro Woche. Drei Viertel in den ersten drei Jahren des Regimes von Ayatollah Chomeini. Die iranische Revolution verriet ihr wahres reaktionäres Gesicht. Das Rad der Zeit wurde zurückgedreht. Die Rechte der Frauen wurden auf null zurückgeschraubt. Scheinheilige und Hinterlistige, schamlose Betrüger und Hasardeure spülte es an die Oberfläche. Verkehrter kann es kaum zugehen. Die Entlarvungder wahren Interessen der religiösen Eiferer, der Beweis der Fehlbarkeit der Tugendwächter ist stets nur eine Frage der Zeit, für die Opfer leider eine Frage auf Leben und Tod. Und es zeigt sich, dass ein würdevolles Leben nach einer aufgeklärten Gesellschaft verlangt. In derTypologie religiösen Fehlverhaltens sind es immer: Formalismus, Legalismus, Rigorismus, Traditionalismus, die Ängste schüren und Pakete schnüren statt zu helfen, den Menschen von der Last seiner Angst in der Welt der Gewalt, der Lüge und des Todes zu befreien. Dagegen ein Gedicht zu wagen, ist für eine arabische Frau schon waghalsig…

Der politische und religiöse Fundamentalismus, heute auch in Gestalt eines nationalistischen Populismus, triumphiert beschämend – wahrlich nicht nur im Iran. In allen Religionen, auch in Christenkreisen richtet er alles, was nach einem anderen Leben strebt. Wehe den Reformern! Fundamentalismus stellt einen Widerstand gegen die Moderne dar. Fundamentalismus verspricht, Fenster und Türen zu schließen gegen alle unwillkommenen Gäste. Er garantiert absolute Gewissheit, festen Halt, verlässliche Geborgenheit, unbezweifelbare Orientierung durch irrationale Verdammung aller Alternativen. Die Frömmelei wird eitel. Sie flüchtet, mit Absolutheitsanspruch, in einen religiösen Wahn. Einer feindseligen Gesinnung entspringt der Verfolgungswahn, der den Terror organisiert. Propaganda ersetzt das Denken. Der theologische Fundamentalist drängt brockenschwere Antworten auf, zwängt in veraltete Denkmuster, oktroyiert ein Zerrbild des Lebens auf. Der Fundamentaltheologe dagegen stellt fundamentale Fragen.

Frauen werden im Westen zwar nicht (mehr) verbrannt oder gesteinigt, aber es wird ihnen ständig bescheinigt, dass es bei ihnen nur auf Aussehen, Rollen, Herrenkult ankommt. Die #Meetoo-Debatte entlarvte Übergriffe in perfiden Machtspielen. Macho-Kultur. Verpfeif dein Schwein! Heißt es jetzt. Die gesteinigte, die gepeinigte Frau! Frauen dürfen sich heute klerikale Demütigungen anhören. Ihr seid zwar die halbe Menschheit, aber keine selbstbestimmten Subjekte, keinesfalls zur Weihe tauglich! Ihr seid Evas Kinder, Objekte der Lust! Ihr seid zwar die bessere Hälfte, aber deswegen verdient ihr (es) nicht besser! Das ließe sich nun leider nicht ausdrücken in Körperwürde, Gehälterwürde, Ämterwürde. Weiberaufstand rumort: Fundamentalisten aller Länder und Religionen: Verkrümelt euch – tretet vor den Spiegel! Zerknüllt eure scheinheiligen Manifeste! Ihr betont, gegen jeden natürlichen Wandel, die Unveränderlichkeit eurer unnatürlichen Lehre! Ihr macht ausgerechnet den Meister der Empathie, Jesus. zum harten, göttlichen Gesetzgeber! Ihr behauptet zu wissen und weigert euch, vom grünen Leben zu lernen! Ihr habt viel Mahnung, aber wenig Ahnung!

Wir Allzu-Unmenschlichen hegen und pflegen unsere Spiele mit Sündenböcken, drehen die Schuld-Spirale. Auch in den Kirchen wird bis heute ständig klebrige Sündensoße über Menschen gegossen, die einfach nicht vollkommen sind und es auch gar nicht sein können, geschweige denn müssen. Um fast Unerträgliches, das geschehen ist, scheinbar erträglich zu machen, belieben wir, uns gegenseitig mit Vorwürfen in die Enge zu treiben. Wenn du nicht so wärst wie du bist, ginge alles leichter! Wenn ihr Eltern nicht so gehandelt hättet, wäre uns der Schmerz der Trennung erspart geblieben. Dabei wird das Geschehene verewigt, bis wir einsehen, dass niemand perfekt ist, auch nicht die Eltern, auch nicht die Kleriker, auch nicht die Staatslenker. Die Kirche muss verlernen zu exkommunizieren und lernen zu kommunizieren. Jesus, den der Philosoph Karl Jaspers neben Sokrates, Buddha, Konfuzius zu den „maßgebenden Menschen“ rechnet, lässt die Menschen in ihr eigenes Gewissen laufen. In ihre eigene Radarfalle. Die Killer wollen nicht an ihre Menschlichkeit erinnert werden. Jesus legt uns das Mund- und Handwerk. Hand aufs Herz: Welches Motiv treibt uns wirklich? 

Wie geht das zu, dass nicht stets die Tradition siegt, sondern die Zuwendung zur sozialen Gegenwart? Wie schafft er das, dass wir nicht mehr auf das Vergangene blicken, auf das, was nun einmal geschehen ist? Wie kommt das Neue zum Vorschein? Jesus hat die Natur im Auge. Schaut auf das Wasser, das Leben schafft! „Durch dich (Wasser) kehren uns alle Kräfte zurück, die wir schon verloren glaubten.“ (Saint-Exupéry) Seht – besonders jetzt im Frühling!- auf das, was sprießt. Seht ihr es denn nicht, dass etwas wirklich Neues entsteht (Jes 43, 19)? Nicht gebannt auf die Vergangenheit, sondern nach vorne zu schauen, das wird auch für den Apostel Paulus ein Blitz, der ihn vom hohen Ross wirft. Saulus, der mörderische Christenverfolger, der vor Steinigungen (!) nicht zurückschreckte, begreift Jesus als Wendepunkt, gerade auch für sich, hin zum Paulus, dem Christusnachfolger. Ich frage mich, wie  Paulus sich von seinen Morden, seinem fanatischen Hass befreien konnte. Kein Wunder, dass ihm als Christen-Mörder das Thema „Rechtfertigung“ am Herzen lag. Er hatte wahrlich Gründe zu vergessen, was hinter ihm lag. Sein Denkmuster, Gott ist selbst einem Mörder gnädig, nimmt den Gedanken einer allgütigen Gerechtigkeit bereitwillig auf. Jesus hat er nie erlebt. Aber sein zelotischer Impuls nimmt jetzt eine andere Richtung. Er versteht das Christusgeschehen als Großchance für die Umformung einer neuen Auserwählungsgruppe. Seine Rettung! Mörderische Fanatiker dagegen stellen ihre krude Ideologie in größter Selbstgerechtigkeit über Gott und den Menschen und seine Bedürfnisse. Sie fürchten das Anderssein und die lebendige Vielfalt, also das Leben. Da hatte Paulus Lernbedarf.

Der moderne Glaube muss sein Credo in empathischer Liebe verankern, die einen freien und universellen Charakter in sich trägt. Die Liebe handelt konkret und individuell, indem sie dem anderen um des anderen willen hilft und respektiert. Liebe ist die Basis aller „Moral“. Liebe sagt ein Ja. Hass spricht ein Nein. Hass verkleinert, Liebe vergrößert das Herz des Menschen. Hass ist ein Räuber, Liebe ein Stifter und Vollender. Die Liebe belästigt uns, bis wir auf sie hören. Solange nicht Liebe regiert, stimmt es nicht. Liebe erst macht das Unstimmige stimmig. Und siehe da, sie macht alles neu!

 Günther Doliwa 04.04.2019

Vgl. Günther M. Doliwa, Glaube Liebe Hoffnung Band II. Über die schönste aller Künste 2013, S. 170f. 212ff

Bild: Ich strecke mich aus nach dem, was vor mir ist,  Sigrid Grabmeier, die Isar an ihrem Ursprung bei Scharnitz im Karwendelgebirge

 

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