Sonntagsbrief zum 33.Sonntag im Jahreskreis, 19. November 2023

17. November 2023 von Tobias Grimbacher

Nicht schlafen wie die anderen

Über Zeiten und Stunden, Schwestern und Brüder, brauche ich euch nicht zu schreiben. Ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Während die Menschen sagen: Friede und Sicherheit!, kommt plötzlich Verderben über sie wie die Wehen über eine schwangere Frau und es gibt kein Entrinnen.

Ihr aber, Brüder und Schwestern, lebt nicht im Finstern, sodass euch der Tag nicht wie ein Dieb überraschen kann. Ihr alle seid Kinder des Lichts und Kinder des Tages. Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis. Darum wollen wir nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein. 

1 Thess 5, 1-6 Einheitsübersetzung

 

Nicht schlafen wie die anderen

Manchmal soll man den ersten Gedanken verfolgen, der beim Lesen eines Texte aufkommt – und manchmal verfolgt mich der erste Gedanke, den ich beim Lesen einer Bibelstelle fasse. So auch bei diese Perikope aus dem Thessalonicherbrief:

 

„Während die Menschen Friede und Sicherheit sagen, kommt plötzlich Verderben über sie, und es gibt kein Entrinnen.“ Genau so ist es doch den Menschen in Israel passiert an diesem 7. Oktober: plötzlich Verderben, kein Entrinnen, mitten Hinein in Festfreude und Sicherheit. Eine menschengemachte, absichtsvolle Apokalypse. 

 

Und was heisst dieser Text für uns, als Christinnen und Christen, fern ab vom geschundenen Nahen Osten? Wir sollen nicht in Finsternis leben, mahnt Paulus; wir seien doch Kinder des Tages, nicht der Finsternis. Sind wir also etwas besseres, denen eine solche Apokalypse nicht passieren kann? Oder müssen wir immer auf der Hut sein, dürfen bloss kein Gefühl von Sicherheit und Friede aufkommen lassen? Ich glaube, beides wäre grundfalsch. 

 

Wir sollen nicht schlafen, nicht wegschauen „wie die anderen“, sondern aufmerksam sein. Licht sein statt Finsternis ist kein Unterschied wie „für das Eine“ und damit „gegen das Andere“, sondern als Kinder des Licht können wir erkennen, dass das Eine wie das Andere eine gute Berechtigung haben kann, und manchmal sogar nur beides gemeinsam. Es kann doch nicht sein, dass mitten in Deutschland Menschen sich um ihre Sicherheit sorgen müssen, nur weil sie jüdischen Glaubens sind - oder muslimischen. 

 

Können wir als Kinder des Lichts uns klar auf eine Seite stellen, ohne das aufmerksame Augenmass zu verlieren? Und wenn ja, auf welche Seite? Gegen den Hass auf unsere Mitmenschen, nur weil sie jüdisch sind! Gegen den Hass auf den Staat Israel und seine Bomben, die im Gazastreifen Tod und Verwüstung bringen. Gegen den Hass auf die uneinsichtigen Palästinenser (sofern sie es tatsächlich sind)? Sogar – gewagter Gedanke – gegen den Hass auf Hamas, eine Terror-Organisation, die plötzlich Verderben bringt und sich selbst hinter und unter Krankenhäusern versteckt? Wenn wir als Christinnen und Christen zur Feindesliebe aufgerufen sind, dann gilt es auch hier, nicht Hass zu empfinden und zu schüren, sondern Wege der Einsicht und Verständigung zu suchen, wenigstens für die Zeit, in der die militärische Klärung der Situation wieder einmal ausgestanden sein wird. Es kann nicht darum gehen, mehr oder weniger Mitleid mit den Opfern in Israel oder in Gaza zu empfinden, sondern nach einem Zustand zu sehnen, in denen es keine Opfer mehr gibt (und die Verstrickung in unheilvolle Taten gelöst ist).

 

Zugegeben, das Thema Feindesliebe ist weit weg von dem, was Paulus beim Schreiben dieses Textes intendiert haben mag. Ihm geht es um den „Tag des Herrn“, das nahe Wiederkommen Christi. Wir wissen inzwischen, dass er nicht ganz so schnell gekommen ist wie Paulus dachte. Umsomehr gilt es, den Tag des Herr, das Reich Gottes, schon in dieser Welt vorauszuahnen, spürbar zu machen – eben indem wir aufmerksam sind und als Kinder des Tages das Verderben unserer Zeit benennen.

 

Diese lichte Aufmerksamkeit wünsche ich uns allen, im finsteren November und in der adventlichen Vorbereitung auf den Tag des Herrn.

Tobias Grimbacher

 

 

Mit dem nächsten Sonntag  und dem Ende des Kirchenjahres endet die Lieferung der Sonntagsbriefe für 2023. Ab dem 3. Dezember beginnt wieder der Wir-sind-Kirche Adventskalender mit Bibelstellen der täglichen Lesungen im Bezug zu unserer Gegenwart. 
 
Unser nächstes Gespräch am Jakobsbrunnen
 

Dienstag 21. November von 19:00 bis 20:00 Uhr

Univ.-Prof'in Dr. Marlis Gielen, Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Paris Lodron Universität in Salzburg zum Thema "Weiheamtsverständnis".

 

Die Online-Andacht am Dienstag 28. November 

ist auf Wunsch von verschiedenen Seiten noch einmal unserer Freundin Eva-Maria Kiklas gewidmet.

Für den 29. Dezember ist eine Online Andacht "zwischen den Jahren" geplant. 

 

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