Sonntagsbrief zum 32. Sonntag im Jahreskreis, 6. November 2016

5. November 2016 von Tobias Grimbacher

Gott der Lebenden

Frauen in Marokko © (2016) Tobias GrimbacherVon den Sadduzäern, die die Auferstehung leugnen, kamen einige zu Jesus und fragten ihn: Meister, Mose hat uns vorgeschrieben: Wenn ein Mann, der einen Bruder hat, stirbt und eine Frau hinterlässt, ohne Kinder zu haben, dann soll sein Bruder die Frau heiraten und seinem Bruder Nachkommen verschaffen. Nun lebten einmal sieben Brüder. Der erste nahm sich eine Frau, starb aber kinderlos. Da nahm sie der zweite, danach der dritte und ebenso die anderen bis zum siebten; sie alle hinterließen keine Kinder, als sie starben. Schließlich starb auch die Frau. Wessen Frau wird sie nun bei der Auferstehung sein? Alle sieben haben sie doch zur Frau gehabt.

Da sagte Jesus zu ihnen: Nur in dieser Welt heiraten die Menschen. Die aber, die Gott für würdig hält, an jener Welt und an der Auferstehung von den Toten teilzuhaben, werden dann nicht mehr heiraten. Sie können auch nicht mehr sterben, weil sie den Engeln gleich und durch die Auferstehung zu Söhnen Gottes geworden sind. Dass aber die Toten auferstehen, hat schon Mose in der Geschichte vom Dornbusch angedeutet, in der er den Herrn den Gott Abrahams, den Gott Isaaks und den Gott Jakobs nennt. Er ist doch kein Gott von Toten, sondern von Lebenden; denn für ihn sind alle lebendig.

Lk 20,27-38
Einheitsübersetzung 1980

„Wessen Frau wird sie sein?“ Andere Übersetzungen sprechen deutlicher aus, was die patriarchalen Sadduzäer eigentlich meinen: „Wem wird sie gehören?“ Denn in der metaphysischen Spielerei, die sie Jesus hier präsentieren, geht es ja letztlich um Besitzstandswahrung, die Bewahrung der irdischen Verhältnisse in einem möglichen Jenseits.

Wenn Jesus antwortet, dort werden die Menschen „nicht mehr heiraten“, dann weisst er damit auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Funktionen der Ehe hin, die ganz und gar irdisch sind. Über lange Jahrhunderte der patriarchalen Gesellschaften hing das wirtschaftliche Überleben einer Frau von ihrem Ehemann und ihren Kindern ab (und in vielen Ländern unserer Welt ohne staatliche Sozialgesetze ist es noch immer so). Eine kinderlose Witwe steht also absolut am Rand der Gesellschaft, muss betteln, hungern, sich prostituieren, jedenfalls ums nackte Überleben kämpfen.

An diesem Punkt setzt auch das Gesetzt des Mose an. Es ist auffällig, dass in Dtn 24 immer wieder von Witwen und Waisen die Rede ist, bevor in Dtn 25,5f die Regel der Schwagerehe folgt, die die Sadduzäer im heutigen Evangelium bemühen. Der Gott des Moses, der sein Volk aus der Unterdrückung in Ägypten befreit hat, ist nach wie vor ein Gott der Unterdrückten und am Rande Stehenden, vor allem aber ein Gott der Lebenden. Den Schreibern des mosaischen Gesetztes geht es weniger darum, dass der tote Bruder doch noch einen Nachfahren bekommt, als darum, dass die lebende Witwe wirtschaftlich abgesichert ist!

Die frohe Botschaft fordert uns also wieder einmal zum Umdenken auf. Alle hochtrabenden Gedankenexperimente über die Verhältnisse im Jenseits gehen am Kern unseres Glaubens vorbei. Auch Mose bringt es nichts, den Gott im brennenden Dornbusch als den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu bekennen – er muss ihn als „den, der für Euch da sein wird“ neu kennenlernen, akzeptieren und umsetzen. Dieser Gott, so glauben wir, wird auch in der Stunde unseres Todes für uns da sein. Vor allem aber will er im Leben für uns da sein, wo wir in Not sind. „Das Gesetz ist für den Menschen da“, stellt Jesus an anderer Stelle klar. Alle Gesetzte Gottes (und der Religionsgemeinschaften) machen nur da Sinn, wo wir mit ihnen für sozialen Ausgleich sorgen, Armut und Unterdrückung verhindern oder zumindest lindern sowie gesellschaftliche Strukturen hinterfragen. Wenn wir uns um diese soziale Gerechtigkeit bemühen, können wir das Jenseits und alle metaphysischen Gewissheiten getrost Gott überlassen: dem Gott von Lebenden.

Einen solchen diesseitig-lebensfrohen Sonntag wünsche ich uns allen.

Tobias Grimbacher

Bildnachweis: Frauen in Marokko © (2016) Tobias Grimbacher

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