Sonntagsbrief zum 30. Sonntag im Jahreskreis, 23. Oktober 2016

22. Oktober 2016 von Anna Röder

Moral ist der Spiegel, der uns den Splitter im eigenen Auge zeigt

Humilitas - Demut, Darstellung auf den Bronzetüren von Andrea Pisano am Südportal des Baptisteriums San Giovanni in Florenz © (2016) Sigrid GrabmeierEr sprach auch zu denen, die von sich überzeugt waren, gerecht zu sein, und die Übrigen gering achteten, und gab ihnen einen Vergleich: „Es gingen einmal zwei Personen hinauf in den Tempel, um zu beten. Die eine war pharisäisch, die andere arbeitete am Zollhaus. Die pharisäische Person stellte sich hin und betete folgendermaßen: ´O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen, die rauben,Unrecht tun und die Ehe brechen oder wie die, die am Zollhaus arbeiten. Ich faste zweimal bis zum Sabbat, und ich gebe den zehnten Teil von meinem ganzen Einkommen.` Diejenige Person, die am Zollhaus arbeitete, blieb von weitem stehen und wollte nicht einmal die Augen zum Himmel erheben, sondern schlug an ihre Brust und sprach: ´O Gott, versöhne dich mit mir, ich habe gesündigt!` Ich sage euch: Diese ging gerechtfertigt in ihr Haus, jene nicht. Denn alle, die sich selbst erhöhen, werden erniedrigt werden. Wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“

Lk 18, 9-14
Bibel in gerechter Sprache

„Es mag manchen unter uns nicht recht schmecken, wenn ich sage, Jesus steht auf der Seite der Loser, der Verlierer. Ist Jesus, ist sein Evangelium dann etwa nichts für uns? In der Tat: Das Evangelium ist zuerst eine Frohe Botschaft für Menschen am Rande, für solche, die irgendwie krank oder ausgegrenzt sind. Das irritiert uns. Soll es auch. Aber es soll uns auf eine ganz andere Weise irritieren.

Mir stellt sich weniger die Frage, zu welcher Sorte wir gehören, als eine erste Erkenntnis: Wir haben hier einen Platz, wo wir bekennen können, wenn wir am Ende sind, aber auch einen Ort, der uns daran erinnert, dass wir vor Gott gut und wertvoll sind. Von ihm geachtet und anerkannt. Im 2. Hochgebet der Eucharistiefeier heißt es, „wir danken dir, dass wir berufen sind, vor dir zu stehen.“

Das ist nur der erste Gesichtspunkt. Der zweite führt uns tiefer. Vermutlich wünschen wir uns alle, dass das Böse aus unserer Welt verschwindet, die Ungerechtigkeit, die Feindschaft, der Hass, Gewalt und Krieg. Doch wenn wir auf die politischen Verhältnisse weltweit sehen, entsteht die meiste Ungerechtigkeit und die größte Gewalt durch den Versuch, das Böse aus der Welt zu schaffen. Das Problem ist mindestens so alt wie die Predigt Jesu, die uns davor warnt, mit dem Unkraut auch den Weizen auszureißen (vgl Mt 13,24ff).

Andrerseits scheint das Evangelium, vor allem die Bergpredigt mit ihren Seligpreisungen, nicht das Zeug zu haben, um Politik zu betreiben, gute Geschäfte zu machen, Völker zu führen und Staaten zum Erfolg zu bringen. Die Wahrheit, die Jesus verkündet, hat nichts mit Herrschaft, dafür viel mit Dienst zu tun. Also keine gute Strategie für die Politik, die Wirtschaft, nicht einmal für die Kirche. Ein drittes: In den beiden Gestalten des Pharisäers und Zöllners, im Licht und Schatten, sehe ich unsere Kirche. Viel zu lange hat sie sich auf die pharisäische Seite gestellt und ihre Selbstgerechtigkeit angebetet. Noch immer müssen wir das Gefühl haben, dass viele Purpurgekleideten beten: „Gott, wir danken dir, dass wir nicht sind wie das Volk.“ Vielleicht treibt sie ja die Sorge, die ganze Kirche würde verlieren, wenn sie sich auf die Seite des Zöllners, der kleinen Leute, stellen wollten.

Dabei wäre es das Wirkungsvollste, was die Kirche in unserer Zeit tun könnte, vom Kopf bis in die letzten Glieder, sich hinzuknien, die schrecklichen Dinge zu bekennen, die auch und sogar im Namen Gottes begangen wurden, und um Vergebung zu bitten. Ich bin davon überzeugt, die Welt würde einer Kirche, die auf den Knien liegt, lieber zuhören, als einer, die im Prunk daherkommt, aufwändige Gottesdienste feiert und damit so tut als wäre sie heilig und vollkommen und hätte auf alles eine Antwort. Die Wunden der Welt können nur geheilt werden, wenn wir unsere Wunden zeigen. Dagegen ist es noch immer so, dass viele in der Kirche aufstehen und Gott danken, dass sie nicht wie die Homosexuellen sind, die Missbrauchstäter, die Geschiedenen und Wiederverheirateten, die abtreibenden Frauen, die kleinen Betrüger. Die dafür danken, dass sie nicht wie die Muslime sind und nicht wie die, die nicht an Gott glauben können.

Das beste Heilmittel, jedenfalls nach dem Wort und dem Geist des Evangeliums ist es, an die eigene Brust zu klopfen. Wer sich an die Brust klopft, verletzt niemanden, nicht einmal sich selbst.

Regina Grotefend-Müller

Textnachweis: Grundlage für diesen Sonntagsbrief war ein Auslegungstext in einem  Liturgie Letter zum Oktober 2013, der von Roland Breitenbach zusammengestellt und verschickt wurde.

Bildnachweis: Humilitas - Demut, Darstellung auf den Bronzetüren von Andrea Pisano am Südportal des Baptisteriums San Giovanni in Florenz.

Auf der Bronzetür befinden sich je 14 Quadrate auf den bronzenen Türflügeln. In die Quadrate ist ein Vierpass eingelassen, in denen Bronzefiguren zu sehen sind. Die zwanzig oberen Bildnisse erzählen aus dem Leben Johannes des Täufers. In den unteren acht befinden sich allegorische Darstellungen der christlichen Tugenden: in der oberen Reihe drei göttlichen Tugenden (Hoffnung - Spes, Glaube - Fides, Barmherzigkeit - Caritas) sowie die Demut, eine der himmlischen Tugenden, in der unteren Reihe die vier Kardinaltugenden (Stärke - Fortitudo, Mäßigung - Temoerantia, Gerechtigkeit - Justitia, Klugheit - Prudentia)

© (2016) Sigrid Grabmeier

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