Sonntagsbrief zum 26. Sonntag im Jahreskreis, 29. September 2019

27. September 2019 von Sigrid Grabmeier

Der Einbrecher

Berlin Klimastreik 20.9. 2019

Wehe den Sorglosen in Zion und den Sicheren auf dem Berg von Samaria, den Vornehmen des Erstlings der Nationen, zu denen das Haus Israel kommt! 

Ihr, die ihr den Tag des Unglücks hinausschiebt und die Herrschaft der Gewalt herbeiführt.

Sie liegen auf Elfenbeinlagern und räkeln sich auf ihren Ruhebetten. Sie essen Fettschafe von der Herde und Kälber aus dem Maststall. Sie faseln zum Klang der Harfe, denken sich wie David Musikinstrumente aus. Sie trinken Wein aus Schalen und salben sich mit den besten Ölen, aber über den Zusammenbruch Josefs sind sie nicht bekümmert.

Darum ziehen sie jetzt gefangen an der Spitze der Weggeführten fort, und vorbei ist es mit dem Gejohle der sich Räkelnden

Amos 6, 1, 3-7 Elberfelder Bibel 

 

Der Einbrecher

Wir befinden uns etwa 760 vor Christus im Nordreich Israel mit der Hauptstadt Samaria. Amos stammte aus dem Südreich Juda und ist der erste Prophet, von dem es ein schriftliches Zeugnis gibt. Er selbst verstand sich selbst jedoch nicht als Prophet sondern bezeichnete sich als Schaftzüchter und Maulbeerfeigenveredler (Kap 7) und als einen von Gott Gerufenen (Kap 3). Der Mann aus Juda brach sozusagen in die nimmersatte, fette Lebenswelt des damaligen Herrschers und seines Hofstaates ein. Er brach nicht ein um zu stehlen, er brach ein um seine Kritik an den Herrschenden hinauszuschreien und rief damit deren heftigen Unmut hervor. - Er kritisierte insbesondere die Ausbeutung der Kleinbauern und sozial Schwachen sowie eine hohl gewordene Kultausübung durch die herrschende Klasse und die Großgrundbesitzer.

Er brach ein und bezog Position für diejenigen, die unter dem Regime des Königs Jerobeam leiden mussten. Auf Kosten der durch die Elite in die Verarmung getriebenen Kleinen Leute, Witwen, Taglöhner, führt sie ein ausschweifendes Luxusleben mit importierten Gütern (Elfenbein), teuren Pflegeprodukten und Festgelagen, die durch lebensbedrohliche Besteuerung der Landwirtschaft erpresst wird. Ein Nebensatz nur, aber ein Geiselhieb: „über den Zusammenbruch Josefs sind sie nicht bekümmert.“ erinnert an die Brüder Josefs, die diesen in den Brunnen geworfen hatten und ihn dem Tod durch Hunger und Durst preisgaben. - An anderer Stelle klagte er Übervorteilung und Betrug durch die Mächtigen an sowie eine Geringschätzung der kultischen Festtage und des Sabbat, da sie dem Handel im Weg standen. (Kap 8, 4-6)

Die Botschaft des Amos ist heute so aktuell wie damals. - Aber auch wir erleben, dass die Propheten und Prophetinnen von heute in unseren Wohlstand und durch Profit und Wachstum geprägtes Leben einbrechen. Sie rufen den Unmut der Bequemen und der Mächtigen und Machtgeilen hervor, sie werden mit Missachtung oder aber mit Verhaftung und Gefängnis bestraft – wie Einbrecher.

Ich möchte den Sonntagsbrief mit Worten aus dem Gedicht „Wenn die Propheten einbrächen“  der jüdischen deutsch-schwedischen Dichterin Nelly Sachs beenden.

Wenn die Propheten einbrächen
 durch Türen der Nacht

mit ihren Worten Wunden reißend 
in die Felder der Gewohnheit,

ein weit Entlegenes hereinholend

für den Tagelöhner

der längst nicht mehr wartet am Abend -

Wenn die Propheten einbrächen

durch Türen der Nacht

und ein Ohr wie eine Heimat suchten -
Ohr der Menschheit
du nesselverwachsenes,
würdest du hören?
 

Aus: Nelly Sachs, Fahrt ins Staublose. Gedichte, Frankfurt am Main (suhrkamp taschenbuch 1485) 1988.

 Bild: "Der Rufer", Klimastreik Berlin 21.9. 2019 © Sigrid Grabmeier

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