Sonntagsbrief zum 24. Sonntag im Jahreskreis, 17. September

14. September 2023 von Günther Doliwa

In der Nähe Jesu das Verzeihen lernen

Da kam Petrus hinzu und sagte zu ihm: „Meister, wie oft wird sich eines meiner Geschwister gegen mich verfehlen, und ich werde ihr oder ihm vergeben? Bis zu siebenmal?“ Jesus sagt zu ihm: „Ich sage dir, nicht bis zu siebenmal, sondern bis zu siebenundsiebzigmal. Deshalb ist die Welt Gottes mit folgender Geschichte von einem Menschenkönig zu vergleichen, der mit seinen Sklaven abrechnen wollte. Als er mit der Abrechnung begann, wurde ihm einer vorgeführt, der schuldete 10.000 Talente. Da er nicht zahlen konnte, befahl der Herr, ihn, seine Frau, seine Kinder und seinen gesamten Besitz zu verkaufen und so eine Zahlung zu leisten. Der Sklave fiel vor ihm unterwürfig nieder und sagte: ´Hab' Geduld mit mir, dann will ich dir die ganze Schuld zahlen.` Der Herr erbarmte sich über diesen Sklaven, ließ ihn frei und erließ ihm die Schuld. Als dieser Sklave herauskam, traf er auf einen seiner Mitsklaven, der ihm 100 Denare schuldete. Er ergriff ihn, würgte ihn und sagte: ´Zahle, was du schuldest.` Da fiel sein Mitsklave vor ihm nieder und flehte ihn an: ´Hab' Geduld mit mir, dann will ich dir zahlen.` Der aber wollte nicht, sondern ging her und warf ihn ins Gefängnis, bis er die Schuld bezahlt hätte. Seine Mitsklavinnen und Mitsklaven sahen, was geschehen war, und wurden sehr traurig. Sie gingen hin und berichteten ihrem Herrn alles, was geschehen war. Da rief ihn sein Herr herbei und sagte zu ihm: ´Du schlechter Sklave! Ich habe deine ganze Schuld erlassen, als du mich darum batest. Hättest du dich nicht auch über deinen Mitsklaven erbarmen müssen, wie ich mich über dich erbarmte?` Und sein Herr wurde wütend und übergab ihn den Folterern, bis er die gesamte Schuld gezahlt hätte. Vergleicht! Gott, Vater und Mutter für mich, wird euch auch zur Rechenschaft ziehen, wenn ihr nicht alle euren Geschwistern von ganzem Herzen vergebt.“

Mt 18, 21-35 Bibel in gerechter Sprache

 

In der Nähe Jesu das Verzeihen lernen

 

Keiner lebt für sich allein. Wenn sich die Dinge zwischen Menschen übel entwickeln und Täter-Opfer-Verhältnisse entstehen, ist es aus mit Ebenbürtigkeit. Amtsgerichte können den Berg an Nachbarschaftsstreitsachen gar nicht abtragen. Klienten, Käufer, Konsumenten haben ständig was auszutragen. Klagen (über ungehemmte verbale Attacken, Behandlungsfehler, Schockanrufe), Vorwürfe, Reklamationen, Reparationsforderungen schwellen an zu einem Chor der Unzufriedenen, Nicht-Einbezogenen, Betrogenen, Aufs-Kreuz-Gelegten. Verübelte Vergangenheit meldet sich energisch. Ungeklärtes kehrt wieder. Sein Vorwurfspaket nicht abzugeben, verleiht ja auch eine gewisse Macht. Hier blitzt auf, was verzeihlich ist und was nicht. Verzeihen beschäftigt sich mit der Frage: Wie können wir die Vergangenheit so nehmen, dass ihre Belastung erträglich oder aufgehoben ist? Wie können wir Streit, Verletzungen, Untaten, Übles aus der Vergangenheit entschärfen, dass es nicht Beziehungen vergiftet oder in späteren Generationen wuchert oder explodiert? Nicht dass geschehenes Unrecht gelöscht oder verdrängt wird, sondern wie es unschädlich gemacht werden kann (wie Minen aus einem vergangenen Krieg). 

 

Fatal, aber beliebt bei Jung und Alt ist der Kniff, das Verhältnis von Täter und Opfer umzudrehen. Damit versucht der Täter, die Schuld auf das Opfer zu projizieren, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Alle Abwehrtechniken der Schuldverschiebung auf die Gegenseite lenken von einer gerechten Friedenslösung ab und verwirren die Tatsachenstränge. Erste Regel: Man darf nicht von den Opfern verlangen, was die Täter leisten müssten. Dem Täter abverlangt sind: klare Einsicht in sein Tun, Bekenntnis des angerichteten Schadens, Eingeständnis der begangenen Schuld, Bemühen um Wieder-Gutmachung (soweit überhaupt möglich). Das Opfer hat die Hoheit der Vergebung. 

 

Glücklich, wer nach der goldenen Regel strebt und in der Wahrheit lebt! verkündet Jesus. Er qualifiziert die Existenz um, vom Erbarmen her. Jesus hinterlässt keine Gesetzestafeln, keinen Kodex (kein Kirchenrecht!), sondern Gleichnisse, aus denen wir Schlüsse ziehen könnten. Darin ist Jesus Meister, uns in Bildern auf die Sprünge zu helfen. 

 

Da sei ein König, der von seinen Leuten Rechenschaft fordert. Plötzlich stehen Schulden im Raum (eine Unsumme fehlt). Säumig in der Rückzahlung, wirft sich der Beschuldigte auf die Knie und bittet um Fristverlängerung. Der betrogene Souverän empfindet mit dem Täter, lässt ihn frei, erlässt ihm die Schuld. Die Abrechnung ist aufgehoben in einem Schulden-Erlass. (Politisch gefragt: Wann werden jene Staaten global entschuldet, die längst mehr als genug Zinsen gezahlt haben?) Dann wendet sich das Blatt ins Allbekannte. Der Beschwichtigungstäter, der sich als Opfer seiner Umstände ausgab, vergisst die Wohltat und handelt völlig entgegengesetzt. Er zeigt keinerlei Verständnis für einen Mitarbeiter, der ihm etwas schuldet. Er würgt ihn, obwohl der nur einen Bruchteil schuldet, wirft ihn sogar ins Gefängnis. Im Gleichnis empört sich das Umfeld, beklagt sich bitter beim König. Der stellt den Täter zur Rede: Du Unbelehrbarer! Hättest nicht auch du dich erbarmen können, wie ich mich deiner erbarmt habe? (Im Vaterunser klingt an, dass wir nur auf so viel Vergeben hoffen dürfen wie wir selbst zu vergeben bereit sind.) Wie oft soll ich denn dem, der mich verletzt, verzeihen, fragt Petrus, reicht siebenmal? Jesus legt ans Herz: Nein! 77mal. Ins Ungemessene. Wer aber kann das?

 

Jesus rät, Vergebung als unaufhörlichen Prozess zu sehen. Unsere Vergebungsbereitschaft soll nie nachlassen. Das Verzeihen hört nie auf, weil Menschen ohne Schuld nicht denkbar sind. Alle bleiben einander etwas schuldig. Außer sie flüchteten sich in die Naivität von Unschuld. Kann sein, dass wir uns selbst großherzig verzeihen lernen müssen, zu unseren Fehltritten, Illusionswahlen, Fehlgriffen zu stehen. In erwachsener Manier. Im Prozess des Verzeihens ist Selbstbegnadigung inbegriffen. Sei gnädig, sei ein Gott, wenn du dich kritisierst!! Niemand ist vollkommen. Erbarmen krönt.

 

Wie aber entkommen Täter ihrer Verstrickung, Verhaftung in die Tat? Täter bleiben Täter, wenn sie keine Distanz zu ihren Taten entwickeln. Wenn sie sich mit ihren Untaten ideologisch identifizieren, obwohl der Mensch stets mehr ist als seine Tat. Dann verheddern sich Täter im Kreislauf der Gewalt. Und die Opfer bleiben ihnen fremd. Wen verwundert es umgekehrt, dass Opfer zu Tätern werden, kompensieren und heimzahlen! Unzählige Geschichten handeln davon. Im Nu sind wir verstrickt ins Böse. Deshalb: Beende Feindschaft, wann immer möglich! Macht zerstört Beziehung, wenn sie Gnadenlosigkeit zum Prinzip macht.

 

Wo Schuld wirkt, gilt die Aufklärungsregel, das Wahrheitsbedürfnis: Skandale müssen ans Licht. Wer sie vertuschen, verstecken, verleugnen hilft, macht sich mitschuldig. Vergeben heißt nicht, Vergehen oder gar Verbrechen zu vergessen. Es ist klar zu unterscheiden, wer vergibt und wem vergeben wird. Das Opfer (die Unschuld) vergibt, der Täter hat um Entschuldigung zu bitten. Zynisch wäre – und die Welt ist gespickt mit Zynismen - von Opfern Anstrengungen zu verlangen, welche die Täter leisten müssten, ihr Unrecht einzusehen. Das wäre so, wie wenn die überfallenen Ukrainer darüber nachdenken sollten, Putin zu verzeihen, der nicht die geringsten Anstalten macht, das brutale Verbrechen seines Angriffskriegs einzusehen, geschweige denn, die Überfallenen zu entschädigen. Wer in der Lüge lebt, verklebt mit ihr. Deshalb ist Wahrhaftigkeit Anfang und Voraussetzung jedes Heilungsprozesses. 

 

Bischof Geoffrey Robinson hat Stufen der Vergebung von Missbrauchsopfern beschrieben (in: Macht, Sexualität und die katholische Kirche Hrsg. Wir sind Kirche 2010, S. 222ff). „Vergebung bedeutet zunächst, zu einem Punkt zu gelangen, an dem man bereit ist, damit zu beginnen, die Sache hinter sich zu lassen, es sein zu lassen“. Um was es nicht geht, ist klar: Nicht den Übergriff leugnen, nicht auf Ausgleich verzichten, nicht Erinnerungen kappen. Eine zweite Stufe erreicht das Opfer, wenn es nicht nur eine gerechte Bestrafung des Täters erhofft, sondern „Änderung und Wachstum des Täters“ wünscht. Verfrühte Vergebung ohne Geständnis des Übergriffs, ohne den Versuch eines Ausgleichs, bringt keinen Frieden. „Wenn Vergebung überhaupt einen Sinn haben soll, dann muss sie aus der freien persönlichen Entscheidung des Opfers erwachsen. Sie darf nicht die Folge einer auferlegten religiösen Pflicht sein.“ Betroffene erzählen von einer unbegreiflichen Verwirrung nach Übergriffen. 

 

Als es um wahre Größe geht, warnt Jesus: Wer eines von diesen unschuldigen Kindern verstört, in Gefühlsverwirrung stürzt, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, man hängte ihm einen Mühlstein um den Hals und ließe ihn in der Tiefe des Meers versinken (Mt. 18,6). Das Gewicht des Steins soll ausdrücken, wie schwer Schuld wiegt. Es soll nicht als Scharia-Regel missverstanden werden.

 

Es hat geradezu zu einer Zerrüttung der Amtsautorität von Bischöfen geführt, dass die Kirchenelite lieber ihre Institution gesehen und geschützt hat als ihre Missbrauchsopfer. Dieses Hauptmotiv von massiven Kirchenaustritten (abgesehen vom Stau ungeklärter Lehrfragen) hat die Riege der Exzellenzen bis heute nicht recht begriffen. Kein Dienstverantwortlicher ist zurückgetreten. Hochbetagte Anwälte müssen für Klienten Entschädigungen gerichtlich erstreiten. Aber Seelenmord verjährt nicht! Gerichte können entscheiden, dass eine vom Bischof beanspruchte Verjährung nicht greift, weil die Kirche rechtsmissbräuchlich gehandelt hat. Müssen jetzt Gerichte bei Bischöfen Einsicht erzwingen? 

 

Weitaus schwieriger gestaltet es sich, in Zeiten von Mehrfachkrisen unter der Hegemonie der Klimakrise unsere Verstrickung in eine imperiale Lebensweise zu erkennen, einzugestehen und zu ändern. Mit Schuldzuweisungen an die Ampel in Berlin ist es nicht getan. Was verhindert globale Solidarität? Wie lässt sich das Samaritergleichnis auf globale Maßstäbe übertragen? Aufrüstung, Vermögenskonzentration, Wohlstand auf Kosten Armer, Steuerflucht in Schattenfinanzplätze, ein gegen die eigenen Verfassungen gerichtetes Grenzregime Europas, Konsum auf Kosten der Natur gefährden hochgradig den Frieden. Abwegig wäre es zu flüchten in Ressentiments, in eine apokalyptische Rache aus dem Jenseits, wo doch unsere Klimakrise menschengemacht ist. Erst durch Schaden klug zu werden, ist eines Klugwesens unwürdig. Wiedergutmachung fängt beim Einkauf an und hört beim Medienkonsum nicht auf. Perfide Strategien der Leugnung oder Relativierung der Klimakrise à la AfD (oder FPÖ) leiten in die Irre. Das schier Unverzeihliche rächt sich mit Folgen, die Generationen abzuarbeiten haben. Menschen aus Armut, Hunger, Trauer, Gewalt, Verfolgung, Ungerechtigkeit zu helfen, gilt seit der Bergpredigt als allererste Menschenpflicht. Wir werden gute Heiler, Vergeber und Gastgeber sein müssen. Kommt darauf an, aus welchen Quellen wir trinken.

 

Wie regiert der König im Gleichnis, der sich von seinen Leuten verraten und betrogen sieht? Verständlich wäre ein Strafimpuls. Aber er ist langsam im Zorn. Der Souveräne schaut auf den Kniefälligen, hat ein Herz für ihn und erlässt ihm die Schuld. Wenn das kein göttlich-väterliches Bild ist für den Lang-Mut des Weitschauenden! Sein Vertrauen ist nie verbraucht. Ein Rest Liebe hält tapfer die Stellung in der Weite seines Herzens. Er hat Hoffnung vorrätig. Gottes Güte hadert nicht.

 

Seht den Menschen! Im Angesicht der Hingerichteten könnten die Verbrecher sehend werden. Hört ihr Friedensbrecher, Hassprediger, Verstockte, Verhärtete, Verblendete, Rachsüchtige, Kriegslüsterne, Macht-Missbraucher, meist Macho-Männer, egal an welchem Tatort! Euch winkt Befreiung. Wisst ihr nicht, jeder Mensch ist viel mehr als seine Tat! Ihr braucht Distanz zu eurem Unwesen, zu eurer Un-Tat! Wer soll eure Untaten vergeben? Wollt ihr sie verdrängen, verleugnen, beschönigen, weißfärben, bis euch die Wahrheit in Fetzen um die Träume und Ohren fliegt? Ihr seid Bestien geworden, dabei solltet ihr Mensch werden. Ihr begrabt euch unter einem Berg von Unverzeihlichem. Haltet ein! Hört auf zu foltern, Frauen zu demütigen, zu vergewaltigen, zu zwingen, zu zerstören, was andere mühsam aufgebaut haben! Respektiert Souveränität! Seid dankbar, dass sich andere gerade nicht manipulieren lassen, unser Werkzeug zu sein. Erst wenn ihr fähig werdet, euer Unrecht einzusehen, kehrt die Würde in euch zurück. Dank der (immerhin möglichen) Vergebung durch eure Opfer, die allein Maß und Zeitpunkt bestimmen, wann es Zeit ist, euch Deformierten eine Chance auf Zukunft zu geben. Begreift: Ohne ihre Gnade seid ihr verloren, ausgelöscht, ausgestoßen! Wahrheit entlarvt euch, straft euch Lügen; da könnt ihr euch nicht auf mangelnde Zeugen oder Straflosigkeit berufen. Gerechtigkeit straft euch. Aber Liebe erweckt euch zu einem neuen Menschendasein. Schlagt sie nicht aus. Gebt ihr in der Vergebung Raum.

 

Ich wünsche Ihnen/euch Freude zu vergeben (z.B. mir die Länge des Briefes) und das schöne Sonntagserlebnis, wie kinderleicht eine kleine Bitte um Entschuldigung geht, wenn der rechte Moment da ist und das Herz ausspricht, was es unter Aufbietung von Kraft zurückgehalten hat. Vergangenheit darf ruhen. Von der Mühe nachzutragen ist man befreit. Du bist erleichtert. Halleluja! 

  

© Günther M. Doliwa, Theologe und Autor, www.doliwa-online.de

 

  

 

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