Sonntagsbrief zum 23. Sonntag im Jahreskreis, 6. September 2015

5. September 2015 von Magnus Lux

In der Wüste brechen die Wasser auf

Sonntagsbrief zum 23. Sonntag im Jahreskreis

Sagt denen, deren Herz rast: „Seid stark! Fürchtet euch nicht!“
Schau hin: Eure Gottheit kommt zur Rache.
Das sind Wohltaten der Gottheit: Sie kommt und wird euch retten.
Dann werden die Augen der Blinden geöffnet
und die Ohren der Tauben aufgetan.
Dann werden die Lahmen wie Hirsche springen
und die Zungen der Stummen jubeln.
Ja, in der Wüste brechen die Wasser auf und die Bäche im dürren Gebiet.
Dann wird der Wüstensand zum Schilftümpel
und das durstige Land zur Wasserquelle.

Jes 35, 4-7a
Bibel in gerechter Sprache

Manche Menschen schlagen tatsächlich vor, das Alte Testament für uns Christinnen und Christen für unwichtig zu erklären. Geht das wirklich? Ist das Neue Testament zu verstehen ohne den Hintergrund des Alten? Schließlich war Jesus Jude und kein Christ! Christinnen und Christen sind erst wir, die wir uns auf den Mann aus Nazaret einlassen, den wir als Christus, als Messias, als den Gesalbten bekennen und den wir zum Maßstab unseres Lebens und Handelns machen – sprich: an den wir glauben. Deshalb wäre es besser, vom Ersten und vom Zweiten Testament zu reden.

Im Blick auf den heutigen Jesaja-Text könnten zwar Zweifel aufkommen, ob das, was er da verkündet, uns heute noch etwas zu sagen hat. „Eure Gottheit kommt zur Rache.“ Von einem solchen Gottesbild haben wir uns doch endgültig verabschiedet, seit Jesus Gott als barmherzigen Vater vorgestellt hat, der selbst den unbotmäßigen verlorenen Sohn wieder in die Arme schließt, ja, der dem älteren Bruder, der missmutig vor der Tür stehen bleibt und dem Vater Vorhaltungen macht, sagt: „Wir müssen doch ein Fest feiern!“

Wenn wir das Zweite Testament als Interpretation, als Auslegung des Ersten im Lichte der „Frohen Botschaft“ betrachten, dann können uns manche harten Worte nicht mehr schockieren. Jesus spricht nicht mehr „vom Herrn der Heerscharen, von Gott Zebaot“, auch wenn das immer noch in unserem neuen Gotteslob steht (Lied 198). Jesus spricht von seinem und unserem Vater, genauer müsste es eigentlich „mein lieber Vater“ oder noch besser „Vati“ heißen, denn das aramäische Wort ist der Kindersprache entnommen.

Dennoch sind die Zweifel nicht ganz ausgeräumt. Was sollen wir heute denn mit den prophetischen Bildern des messianischen Heils anfangen, die Jesaja in eine Zeit der Hoffnungslosigkeit des Volkes hinein gesprochen hat? Mit denen er Menschen und Natur eine wahrhaft messianische Zukunft verheißt?

Seien wir vorsichtig mit vorschnellen Verurteilungen solcher Bilder. Der Mensch denkt und redet in Bildern: er er-fasst etwas, er be-greift etwas, er sieht etwas ein. Ohne Bilder können wir gar nicht leben. Und so brauchen wir auch heute noch Bilder, die uns Hoffnung geben und Mut machen.

Eine Zeit der Hoffnungslosigkeit erleben wir in Deutschland heute Gott sei Dank nicht – aber die Flüchtlinge, die zu uns kommen, wollten ihrer Hoffnungslosigkeit und der Wüste der Verzweiflung entfliehen. Sie brauchen von uns Zeichen und Taten, dass ihre Hoffnung auf ein Leben in Würde nicht enttäuscht wird. Wir können ihnen ein Willkommen bieten statt der dumpfen rassistischen Ablehnung, eine feste Unterkunft für den Winter statt der angezündeten Häuser, eine Möglichkeit, ihre Lebensgrundlage selbst zu erarbeiten statt der oft monatelangen Wartezeit, in der sie zur Untätigkeit verdammt sind. Für sie sollen die Jesaja-Worte gelten: „Dann werden die Lahmen wie Hirsche springen und die Zungen der Stummen jubeln. Ja, in der Wüste brechen die Wasser auf und die Bäche im dürren Gebiet.“

Einen gesegneten Sonntag Euch allen
Magnus Lux

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