Sonntagsbrief zum 2. Sonntag der Fastenzeit, 25. Februar 2024

23. Februar 2024 von Sigrid Grabmeier

Wollte Gott Jesu Tod?

Ist Gott für uns,
wer ist dann gegen uns?
Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont,
sondern ihn für uns alle hingegeben –
wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?
Wer kann die Auserwählten Gottes anklagen?
Gott ist es, der gerecht macht.
Wer kann sie verurteilen?
Christus Jesus, der gestorben ist,
mehr noch: der auferweckt worden ist,
er sitzt zur Rechten Gottes
und tritt für uns ein.

 

Röm 8, 31-34 Einheitsübersetzung

 

Wollte Gott Jesu Tod?

 

Will Gott, dass seine Kinder gewaltsam sterben? Das Gebot „Du sollst nicht töten“ spricht dagegen. Welcher Vater oder Mutter könnte wollen, dass ihr Kind gewaltsam stirbt? Und doch sterben Tag für Tag Menschen durch die Hand anderer. Aus „gerechten“ Gründen – weil Krieg ist. Oder durch banalen Mord, hinterrücks, grausam, infam. Oder weil es eine Rechtssprechung gibt, die zum Tode verurteilt oder Gefängnisse, in denen die Gefangenen ihres Lebens nicht sicher sind. 

 

Vor meinen geschlossenen Augen tun sich die Schlachtfelder auf, auf die junge Menschen geschickt werden, für Vaterländer, für Götter, für Götzen, für menschlichen Wahnsinn. Nichts ist gut daran, wenn sie sterben. Nichts ist gut daran, wenn Familien vernichtet, wenn Lebensgrundlagen zerstört werden, wenn das Leben nichts mehr zählt.

 

Schon lange kann ich es nicht mehr hören, wenn im Gottesdienst gesagt wird: Jesus Christus hat uns durch sein Leiden erlöst. In Liedern, in den Lesungen, in Gebeten. – Jesus ist ermordet worden, auf grausamste Art. Er hat gelitten, er wurde gedemütigt. Weil er so gelebt hat, weil seine Botschaft eine Kampfansage gegen das Establishment war; gegen die römische Besatzung und die Herrschenden und religiösen Führer, die sich mit den Römern arrangiert hatten. Jesu Tod reiht sich ein in die unzähligen sinnlosen Tode, in die grausame Ermordung von Menschen in Vernichtungslagern, auf Schlachtfeldern, in Ghettos, in Slums, auf Straßen und Gassen, in Städten und Dörfern. Er hat uns nicht durch sein „bittres“ Leiden und seinen Tod sondern durch sein konsequentes Leben und seine Botschaft die Erlösung nahe gebracht. Diese Botschaft, die uns aus dem Bösen lösen will und kann. Und sein Leben und seine Botschaft konnten nicht ermordet und nicht begraben werden. - Sie wirken weiter und machen Mut, gegen jeden sinnlosen Tod.

 

 

Der Sonntagsbrief der letzten Woche von Johannes Brinkmann wurde vor dem Tod Alexei Nawalnys geschrieben. Darin werden sowohl der Satz zitiert „Glücklich genannt werden die, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden!“ wie auch Jesu Konsequenz, mit der er seiner Ermordung entgegenging zum Ausdruck gebracht. Ich möchte meinen Sonntagsbrief ergänzen mit der großartigen und zutiefst betroffen machenden Rede Alexei Nawalnys nach seiner Verurteilung am 20. Februar 2021 zu dreieinhalb Jahren Arbeitslagerhaft

 

Sigrid Grabmeier

 

„Tja, ich soll also mein Schlusswort sprechen – spreche ich also mein Schlusswort. Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch sagen soll, Euer Ehren. Soll ich mit Ihnen vielleicht über Gott und Erlösung reden? Den Pathos-Hebel auf Maximum stellen? Die Sache ist nämlich die: Ich bin ein gläubiger Mensch. Bei der Anti-Korruptions-Stiftung und in meinem Umfeld werde ich eher damit aufgezogen, die Leute sind da meist Atheisten, und ich war auch mal einer, sogar ein ziemlich militanter. Aber jetzt bin ich ein gläubiger Mensch, und das hilft mir sehr bei dem, was ich tue. Es macht alles viel, viel einfacher. Ich grüble weniger, ich habe weniger Dilemmas in meinem Leben – denn es gibt da so ein Buch, das mehr oder weniger genau beschreibt, was man in welcher Situation zu tun hat. Es ist natürlich nicht immer einfach, sich daran zu halten, aber ich versuche es im Großen und Ganzen. Und deshalb fällt es mir wohl leichter als vielen anderen, in Russland Politik zu machen.

Kürzlich hat mir jemand geschrieben: "Du, Nawalny, warum sagen dir eigentlich ständig alle: Halt durch, gib nicht auf, du musst es überstehen, beiß die Zähne zusammen ... Aber was hast du denn eigentlich zu überstehen? Du hast doch in einem Interview gesagt, du glaubst an Gott. Und es steht ja geschrieben: Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Dann geht es dir doch bestens!" Und ich dachte mir: Da versteht mich ja jemand richtig gut! Nicht, dass es mir gerade bestens ginge, aber dieses Gebot habe ich immer als Handlungsanweisung verstanden. Es macht mir zwar keinen Spaß, hier zu sein, aber ich bedauere auch keinesfalls meine Rückkehr und das, was ich gerade tue. Denn ich habe alles richtig gemacht. Ich fühle sogar so etwas wie Genugtuung, weil ich in einer schwierigen Zeit getan habe, was in der Anweisung steht. Ich habe das Gebot nicht verraten.

Eine wichtige Sache noch. Für den modernen Menschen klingt dieses Gebot natürlich viel zu pathetisch: "selig", "hungert und dürstet nach Gerechtigkeit" ... Ja, es klingt ziemlich abgedreht. Ganz ehrlich: Menschen, die so was sagen, wirken schlichtweg verrückt. Es sitzt also irgendein Verrückter mit zerzausten Haaren in seiner Zelle und versucht, sich aufzumuntern. Solche Menschen sind natürlich einsam, sie sind allein, weil niemand sie braucht.<

Und das ist das Wichtigste, was dieser Machtapparat, was unser ganzes System solchen Menschen sagen will: "Du bist allein. Du bist ein Einzelgänger." Zuerst Angst einjagen und dann zeigen, dass du allein bist. Denn was für ein normaler, vernünftiger Mensch hält sich an irgend so ein Gebot? Ja, die Sache mit der Einsamkeit ist sehr wichtig. Es ist ein sehr wichtiges Ziel dieses Regimes. Übrigens hat die großartige Philosophin Luna Lovegood es ausgezeichnet auf den Punkt gebracht. Wissen Sie noch, die aus Harry Potter? Als sie sich in einer schwierigen Zeit mit Harry Potter unterhält, sagt sie: "Es ist wichtig, sich nicht einsam zu fühlen. Denn an Voldemorts Stelle würde ich sehr wollen, dass du dich einsam fühlst." Unser Voldemort in seinem Palast will das natürlich auch.

Wissen Sie, die Burschen, die den Gefangenentransport bewachen, sind tolle Jungs, und meine Wächter im Gefängnis sind auch okay – aber sie reden nicht mit mir. Es wurde ihnen wohl verboten. Sie sagen nur gelegentlich etwas Dienstliches. Und das ist eben auch so eine Sache, damit ich mich ständig einsam fühle. Aber das wirkt bei mir nicht. Und ich kann sagen, warum. Dieses "Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden" – das mag ja exotisch oder komisch klingen, aber in Wirklichkeit ist das aktuell die bedeutendste politische Idee in Russland. Sagen Sie doch selbst, Euer Ehren – es gibt in Russland so einen politischen Slogan, den populärsten überhaupt, wie heißt er noch mal? Helfen Sie mir aus: Wo liegt die Kraft? (Pause) Richtig, Kraft liegt in Gerechtigkeit. Das ist ein Satz, den alle zitieren. Und es ist ja genau das Gleiche – das gleiche Gebot, nur ohne diesen altmodischen Schnickschnack. Die gleiche Essenz, auf Twitter-Länge komprimiert. Und das ganze Land wiederholt es: Kraft liegt in Gerechtigkeit. Wer Wahrheit und Gerechtigkeit hinter sich hat, wird siegen.“

aus: Alexej Nawalny: Schweigt nicht! Reden vor Gericht*** https://www.droemer-knaur.de/buch/alexei-nawalny-schweigt-nicht-9783426278802

 

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