Sonntagsbrief zum 15. Sonntag im Jahreskreis, 14. Juli 2019 (Kopie)

12. Juli 2019 von Magnus Lux

Wer ist mein Nächster? – oder: Wem bin ich Nächste?

Francisco Magallon

Und siehe, ein Gesetzeslehrer stand auf, um Jesus auf die Probe zu stellen, und fragte ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben!  Der Gesetzeslehrer wollte sich rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.  Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle du genauso!

Lk 10,25-27 Neue Einheitsübersetzung 

Wer ist mein Nächster? – oder: Wem bin ich Nächste?

Ach ja, werdet ihr jetzt denken, wieder einmal das Evangelium vom barmherzigen Samariter. Das ist doch so ausgelutscht, weil der Samariter für alle und jede*n als Vorbild hingestellt wird, wenn’s um die Nächstenliebe geht. Wie damals ist es halt auch heute noch so: Wenn eine*r Hilfe braucht, gehen zwei einfach weiter, erst jede*r dritte hilft. Also bitteschön, sei der dritte, sei die dritte.

Der Schriftgelehrte fragt: Wer ist mein Nächster? Aber ist das die richtige Frage? Der Mann aus Nazaret ändert die Blickrichtung: Wem bin ich Nächste*r? Also: Wer braucht mich, gerade mich, hier und jetzt?

Da befremdet uns doch, warum ausgerechnet der Priester und der Mann aus dem Stamm Levi, die für den Gottesdienst im Tempel von Jerusalem zuständig sind, einen großen Bogen um den unter die Räuber Gefallenen machen. Die Antwort: Ja wenn sie zum Gottesdienst eingeteilt sind, dann müssen sie „rein“ bleiben, dürfen sich nicht mit Blut beflecken und in die Nähe eines Sterbenden kommen. – Das sei unverständlich? Als Papst Franziskus nach Lampedusa reiste, um sich mit Flüchtlingen zu treffen und an die im Mittelmeer Ertrunkenen zu erinnern, hat das auch heutzutage noch bei vielen zu Befremden geführt: Dass sich ein Papst in diese menschlichen Niederungen begibt!

Aber der dritte, ein Normalbürger, der würde helfen. Und jetzt schockiert Jesus seine Zuhörer: Der, der hilft, ist kein frommer Jude, nein, es ein Mann mit dem falschen Gebetbuch, der, weil er aus Samaria stammt, nicht einmal in den Tempel von Jerusalem gelassen wird. – Ich kann mich erinnern: Als ich ein Junge war, ging in unserer kleinen Stadt die große Verwunderung um. Da hatte einer, der mit der Kirche gar nichts am Hut hatte, sich um einen in Not geratenen Mitbürger gekümmert, um einen, der im sozialen Geflecht ganz unten stand, mit dem man lieber nichts zu tun haben wollte. „Dass ausgerechnet der hilft!“ Der hatte nicht nur Mitleid, nein, der hatte buchstäblich Bauchweh bekommen, so wie der Mann aus Samaria auch, als er den Schwerverletzten da liegen sah. Und die Frommen? Die hatten Besseres zu tun.

Wir sind immer noch nicht am Ende mit dem Nachdenken über das heutige Evangelium. Franz Kamphaus, der frühere Bischof von Limburg, hat einmal zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter gesagt: „Es genügt doch nicht, den unter die Räuber Gefallenen zu verbinden. Auf dem Rückweg von Jericho nach Jerusalem passiert ihm genau dasselbe wieder. Wir müssen die Übel an der Wurzel angehen. Wir müssen die Strukturen der Räuberei freilegen und zu ändern versuchen. Christliche Nächstenliebe hat sich heute im gesellschaftspolitischen Engagement zu bewähren.“ 

Ja, der Dienst der Kirche besteht nicht nur im sogenannten Samariterdienst, also in der Soforthilfe. Wo packen wir heute das Übel an der Wurzel an? Wo bleibt ein neues Sozialwort der deutschen Kirchen? Wo ein lautes Wort zur immer weiter auseinanderklaffenden Schere von Armen und Reichen? Wo ein Wort zur steigenden Gefahr der Altersarmut? Wo ein Wort gegen die Ausbeutung von Arbeitskräften? „Diese Wirtschaft tötet!“, hat Papst Franziskus gesagt. Wir in Europa haben lange so getan, als sei die Armut der dritten Welt ihr hausgemachtes Schicksal. Erst jetzt dämmert es uns langsam, dass die „Räuberei“, der brutale Kapitalismus, vor uns allen nicht haltmacht. 

Wann also bin ich Nächste*r? Wenn ich barmherzig bin, wenn ich ein Herz für die habe, die auf Hilfe angewiesen sind, mehr noch: wenn es mir zu Herzen geht und ich nicht anders kann, als das Not-wendige zu tun.

Magnus Lux

Bildnachweis:

Franzisco Magallon  Kinderarbeiter auf einer Mülldeponie in Bangladesh

 

 

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