Sonntagsbrief zum 11. Sonntag im Jahreskreis, 12. Juni 2016

11. Juni 2016 von Tobias Grimbacher

Von den Füßen auf den Kopf gestellt.

Von den Füßen auf den Kopf gestellt - Ein Pharisäer aber lud ihn ein, mit ihm zu essen, und er ging in das Haus des Pharisäers und legte sich zu Tisch. Und seht, eine Frau, die in der Stadt als Sünderin galt, hörte, dass er im Hause des Pharisäers aß, und brachte eine Alabasterflasche Salböl. Dann begab sie sich nach hinten, zu seinen Füßen, und weinte. Mit den Tränen begann sie seine Füße zu benetzen, mit ihren Haaren trocknete sie diese, und sie küsste und salbte seine Füße mit Salböl. Der Gastgeber aber sah dies und sagte zu sich: „Wenn er ein Prophet wäre, würde er merken, wer sie ist und woher die ist, die ihn berührt, nämlich: eine Sünderin.“

Jesus aber sagte zu ihm: „Simon, ich muss dir etwas sagen.“ Der sagte: „Lehrer, nur zu, sprich!“ „Es hatte jemand an zwei Personen Geld geliehen. Eine Person schuldete 500, die andere 50 Denare: Da sie es nicht zurückzahlen konnten, schenkte er es beiden. Wer von den beiden Personen wird ihn dafür stärker lieben?“ Simon antwortete: „Ich vermute, diejenige, der er mehr geschenkt hat.“ Und er sagte zu ihm: „Du hast richtig geurteilt.“

Er wandte sich der Frau zu und sagte zu Simon: „Siehst du diese Frau? Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser für die Füße gegeben. Sie aber benetzte meine Füße mit Tränen und trocknete sie mit ihren Haaren. Du gabst mir keinen Begrüßungskuss, sie aber, seit sie hereingekommen ist, hat nicht aufgehört, meine Füße zu küssen. Du hast meinen Kopf nicht mit Öl gesalbt, sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden wurden ihr vergeben, denn sie liebt stark. Wem aber wenig vergeben wurde, der liebt nur wenig.“

Er sagte zu ihr: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Am gemeinsamen Tisch begannen sie zueinander zu sagen: „Wer ist er, dass er auch Sünden vergeben kann?“ Er sagte zu der Frau: „Deine Glaubenstreue hat dich gerettet, gehe in Frieden!“

Lk 7, 36 - 50
Bibel in gerechter Sprache

Reden wir also über die Sünderin. Jeder weiss ja, dass sie eine Sünderin ist, es ist stadtbekannt, man sieht es ihr quasi an der Nasenspitze an. Dabei benennen weder die Pharisäer im Haus des Simon noch der Evangelist Lukas die Sünden der Frau. Gegen welches der 10 Gebote hat sie wohl verstossen? Oder gegen alle? Egal, denn wir wissen ja, was jeder weiss: sie ist eine „Stadtbekannte“! Und die Frechheit, ungefragt in das Haus zu kommen und Jesus ungefragt zu berühren: das macht die Sünde mit Sicherheit noch schlimmer!

Aber Jesus stellt das stadtbekannte in Frage. Er hinterfragt, was alle wissen, und er fordert dazu auf, es selbst zu hinterfragen. An keiner Stelle im Lukasevangelium bezeichnet Jesus einen Menschen von sich aus als Sünder. Wo er es tut, übernimmt er immer die Bezeichnung von anderen und versucht sein Möglichstes, sie ins Reine zu bringen.

Wenn Jesus zu der Frau sagt „Deine Sünden sind dir vergeben“, dann meint er sicher: „Für mich bist Du keine Sünderin – ich glaube an Dich, als umsichtigen und liebevollen Menschen“. Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich aber, dass Jesus den Satz nicht primär für die Frau sagt, sondern für die umstehenden Männer. Deshalb sagt er es ihnen zuerst: „Ihre viele Sünden wurden ihr vergeben. Behandelt sie entsprechend!“ Jesus ist ja bekannt dafür, die Dinge auf den Kopf zu stellen – oder besser, vom Kopf wieder auf die Füße. Eigentlich meint er: „Eure vielen Sünden sind euch vergeben. Ihr habt sie abgestempelt und ausgegrenzt, und wisst womöglich nicht einmal, warum. Sie ist es, die euch vergeben muss – und ihr Verhalten zeigt, dass sie das tun wird, dass sie mit euch vorurteilsfrei zusammenleben will.“

Habe ich nun zu viel über Sünde gesprochen, wo es uns doch um das Reich Gottes gehen soll? Ich glaube, dass die Sünde der Männer im Haus des Simon bis heute weit verbreitet ist: die kollektive Schuld, andere aus mehr oder weniger nichtigem Grund auszuschliessen, schlecht über sie zu reden und lieber nicht so genau hinzuschauen, was für ein Mensch da be- und verurteilt wird. So stehen wir dem Reich Gottes im Wege: mit unseren Vorurteilen; mit dem Stempel, mit dem wir jemanden abstempeln und auf einen negativen Aspekt seiner vielen Eigenschaften reduzieren. Jesus will, dass wir neu hinschauen und manchmal unser Denken auf den Kopf stellen (lassen): „Lebt vorurteilsfrei und liebevoll zusammen. Eure Sünden sind euch vergeben.“

Allen kleinen und grossen Sünderinnen und Sündern wünsche ich einen gesegneten Sonntag
Tobias Grimbacher

Bildnachweis: Von den Füßen auf den Kopf gestellt, 

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